Mittwoch, 14. September 2011

Mit Bourdieu bei HGich.T

HGich.T in der Hamburger Morgenpost, 2009

Schock, Ekel, aggressives Nichtverstehen. Von „der schlechtesten Musik, die ich je gehört habe“ (laut.de), ist die Rede, von „mit Abstand eine[m] der beschissensten Alben des Jahrzehnts“ (intro.de), von „Voll-Nonsens,“ einem „mittelschwere[n] ödipale[n] Komplex und eine[r] nie überwundene[n] anale[n] Phase“ (Spex). Reflexe, die man (abseits von längst unbedeutend gewordenen Parallelwelten, die von verwirrten Leuten wie Eva Hermann bewohnt werden) längst für tot gehalten hatte, feiern bei der Begegnung mit HGich.T auf einmal fröhlich Einstand, als hätte es all die vergangenen Aufreger über Rock ‚n‘ Roll, Punkrock, Hip Hop, Techno, you name it… nie gegeben. Dass es so etwas noch geben kann, hatte man eigentlich schon gar nicht mehr für möglich gehalten.

„An der Tafel steht 1 + 1, was kommt raus? Sex Sex Sex im Scheißhaus!“

HGich.T, ein Band-/Performance-Kollektiv von zehn bis 15 Leuten aus der Umgebung Hamburgs, machen Boller-Mucke mit stumpfen Beats und debil anmutendem Sprechgesang in derber Hamburger Mundart, eine Mischung aus Schranz und Psy-Trance, soweit ich das beurteilen kann bzw. anderswo gelesen habe. Dabei wird, wenn man so will, der Loop großgeschrieben. Die Texte greifen Unterschichten-Klischees auf, wie sie das distinguierte Bürgertum, und damit durchaus auch die „kreative Bohéme“ von den Hartz-IV-Empfängern, den Migrationshintergrundfamilien und den überforderten Alleinerziehenden der „Neuen Unterschicht“ hat, und wie sie täglich auf RTL und Pro 7 in gescripteten „Reality“-Shows vorgeführt werden. Begonnen hat die Geschichte von HGich.T mit so-bekloppt-dass-es-schon-wieder-gut-ist-Videos auf Youtube, die „Tutenchamun“ oder „Hauptschule“ hießen, und die man sich auf sterbenden Partys gegenseitig als den nun aber endgültig krassesten Scheiß vorgespielt hat. Die Videos wurden mehr, dann folgte eine erste EP und im letzten Jahr das Album „Mein Hobby: Arschloch“.

„Den Song hab ich geschrieben!“


Und während das Ganze auf Platte doch etwas von seinem Youtube-Video-Spaßfaktor verliert (und bezeichnenderweise noch weniger Spaß macht, wenn man es sich allein anhört), wird es auf der Bühne zum absolut durchgeknallten Dada-Spektakel. Anna-Laura, Sänger und Anführer der Gruppe, gibt den infantilen Sachbearbeiter im Alkohol- und/ oder Drogenrausch, daneben tanzt dauergrinsend der Typ mit der Warnweste aus den Youtube-Videos, schwarz angemalt wie ein Minstrel-Sänger und in Erwachsenenwindel. Die Bühne ist passend zum nicht-Ernst-oder-doch-Ernst-gemeinten Goa-Flirt des Kollektivs mit weisen Fäden (die vorher in penibler Friemelarbeit hundertfach von Bühnengestänge zu Bühnengestänge gesponnen wurden) geschmückt und in Neon-Farben ausgeleuchtet. Der DJ scheint tatsächlich so ne Goa-Type zu sein, or is he? Und was für eine Rolle spielt das bei einer Band wie HGich.T eigentlich noch? Dazu tanzt ein Mädchen im Loveparade- bzw. Goa-Look. Lässt man sich darauf ein und wirft seine anerzogenen Hemmungen über Bord, macht das einen irren Spaß. Dass, wie bei anderen Auftritten der Band, Pimmel-Bilder gemalt werden, muss mir beim Konzert in der Roten Sonne entgangen sein, ein Dixi-Klo, wie bei anderen Shows war aber definitiv nicht dabei, aber auch das hätte das Schock-Potential von HGich.T nicht wirklich steigern können. Anna-Laura ist während des Geballers die meiste Zeit vor der Bühne und rempelt sich durchs Publikum, wobei er nie seinen Komasäufer-Blick verliert, also nie aus seiner Rolle in eine andere Rolle fällt. Jeden Song kündigt er stolz-infantil mit „den Song hab ich geschrieben“ an.

„Tut ja nicht so, als ob ihr was verstanden hättet!“

Trotz all der Schockerei (Schock, gähn…) sind es allerdings nicht so sehr, oder nur oberflächlich, die Schock-Elemente, die der Grund für die Entrüstung über HGich.T sind. Denn dafür ist selbst die HGich.T-Schock-Palette heutzutage zu harmlos. Viel eher bildet die Abwesenheit jeglichen Sinns den eigentlichen Kern des aggressiven Nicht-Verstehens, das dem Kollektiv entgegengebracht wird. Nicht nur lässt sich aus der Musik (via: den Texten) kein Sinn herauslesen, noch nicht einmal mittels Unterstellung von Ironie, Sarkasmus, Bad-Taste-Umdefinierung oder was sich der postmoderne Diskurs eben noch so ausgedacht hat, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Auch auf der Bühne geben HGich.T nichts preis, stiften im Gegenteil nur noch mehr Verwirrung, und selbst in Interviews bleiben die Mitglieder der Performance-Gruppe in ihren Rollen und weigern sich vehement, überhaupt auf gestellte Fragen einzugehen. Erklärungsversuche werden mit Dadaismus, Null-Aussagen, Fehlinformationen, und Parodien auf Interview-Antworten ins Leere laufen gelassen. Dazwischen gibt es zwar trotz alledem Hinweise auf Absichten und Überzeugungen der Bandmitglieder, von denen einige im „richtigen“ (besser: im „falschen“?) Leben immerhin“ „respektable“ Professoren oder Kunst-Studenten sind, aber das geht angesichts des ganzen übrigen Wirrwarrs dann doch meistens unter.

Dass das vor allem Journalisten hart trifft, ist nur logisch. Sie sind es schließlich, die den hungrigen Lesern die Welt erklären sollen, ständig Sinn aus etwas „herauslesen“ oder, näher dran, „herstellen“ sollen. Für etwas, das keinen Sinn „ergibt“, haben die meisten kein Rezept. Das einzige, was dann noch bleibt, ist die Sache für verwerflich-obszön oder harmlos-kurios zu erklären. Dass dieses ganze Sinn-Konstruieren ein zutiefst bürgerliches Phänomen ist – der herrschenden Klasse also hilft, oben zu bleiben – wird hier jetzt einfach mal nur am Rand erwähnt.

"Das System ist das Problem, ja? Ja! Das System ist im System, ja? Ja! Ich bin das System, ja? Ja!"

Sänger Anna-Laura

Nun ist peinliches Vermeiden von Sinnproduktion natürlich auch schon wieder, richtig: Sinn. Denn wo sich wiederholte Unsinnigkeit zu vorhersagbarem Verhalten verdichtet, ist bewusstes Handeln nicht mehr weit, und ehe man sich versieht, schwirren auch schon Zwecke umher. Der Sinn, die Agenda von HGich.T ist also das unablässige Herstellen von Sinnlosigkeit. (Und da läuft sie schon wieder, die Sinnkonstruktions-Maschine.) Gleichzeitig sind HGich.T die ganz großen Distinktions-Praktiker.

„Die feinen Unterschiede“ (frz. „La Distinction“) hieß eine 1979 von Pierre Bourdieu veröffentlichte Studie, die die kulturellen Abgrenzungsmechanismen gesellschaftlicher Schichten am Beispiel der französischen Gesellschaft beschrieb. Die total vereinfachte Grundthese des Buches könnte lauten, dass sich soziale Schichten nicht nur anhand wirtschaftlicher, sondern auch anhand kultureller Kriterien beschreiben lassen. Nicht individueller Geschmack, sondern schichtenspezifische Geschmacksrichtungen sind demnach ausschlaggebend für den Kulturkonsum des Einzelnen. Mittels dieser Geschmacksrichtungen grenzt sich eine gesellschaftliche Schicht von der anderen ab, soziale Unterschiede werden festgeschrieben: Distinktion. Und hier kommen HGich.T ins Spiel, denn sie unterlaufen diese Geschmacksgrenzen und entblößen so das ganze schale Distinktions-Gehabe.

Indem HGich.T sich – und das ist wichtig – trotz besseren Wissens einen feuchten Kehricht um Geschmacksgrenzen scheren, führen sie dem distinguierten Bürgertum das distinguierte Bürgertum vor. Die „stumpfe“ Schranz/Trance-Mucke und die „bekloppten“ Texte entblößen meine Dial-Alben und meine Animal-Collective-Platten als Ergebnis jahrelanger, zeitintensiver und sozialisationsbedingter Distinktionsarbeit. Der „billige“ Goa-Chic und die knallbunte „Unterschichten“-Ästhetik stellen meine sorgfältig zusammengetrödelte, gedecktfarbene Retro-Einrichtung und meinen American-Apparel-plus-Flohmarkt-Look in Frage. Das „asoziale“ Verhalten des Kollektivs entlarvt mein „gesittetes“ Benehmen in seiner ganzen Angepasstheit. Und deswegen ist es übrigens auch nicht nur erfreulich, sondern nur logisch, dass bei einem HGich.T-Auftritt die verschiedensten Charaktere auftauchen. Fühle ich mich bei vielen meiner übrigen Konzertbesuche oft wie ein Klon in einer einzigen Masse aus so „geschmackvoll“ gekleideten wie „gut“ erzogenen Hipster-Klonen, tanzen bei HGich.T ausgelassene jugendliche Komasäufer in Warnweste neben verschüchterten Hipstern mit Jutebeutel.

„Mama, ich muss A-A!“

Beim Dreh zu "Tutenchamun"

HGich.T sind ein Aufruf, selbstauferlegte bzw. gruppendynamische bzw. schichtenspezifische Geschmacks- und Benimm-Kodizes zu hinterfragen und über Bord zu werfen, weswegen ein Konzert von HGich.T auch so befreiend und revealing sein kann. Es kann das allerdings nur sein, weil HGich.T einen zwar sinnfrei erscheinenden, aber im Kern dennoch intelligenten Humor besitzen, der sie nicht zuletzt von Sachen wie Frauenarzt, denen sie rein musikalisch gar nicht so unähnlich sind, unterscheidet. (Stattdessen teilen sie diese Art Humor mit Leuten wie Helge Schneider und dem Filmemacher Wenzel Storch). Damit sind HGich.T auch eine unmittelbare Kritik an einem während der Nuller Jahre sich in immer feineren Verästelungen ausdifferenzierenden Indie-Mainstream, dessen Ziel es zu sein scheint, immer geschmackssicherer und feinfühliger zu werden.

Die Dial-Alben von der Festplatte zu löschen und die Animal-Collective-Platten bei Discogs zu verhökern dürfte keine Lösung sein. Sich möglichst nichts drauf einbilden schon eher. Und sich vielleicht auch mal fragen, was genau immer kenntnisreicher und handwerklich immer perfekter umgesetzte Aktualisierungen alter Sounds, wie sie im „Indie“-Segment die letzten Jahre Trend sind, eigentlich bringen. Denn wenn die Indie-Maschine tatsächlich immer einfach so weiter läuft, könnte es schon bald ziemlich langweilig werden im Mainstream-der-Minderheiten-Land. Sachen wie HGich.T lassen allerdings hoffen, dass es dazu doch nicht kommen wird.

HGich.T: Mein Hobby: Arschloch
Tapete, 16.07.2010











-> Die wilde HGich.T Homepage (passt auch ins Programm, passt das doch so gar nicht zur bürgerlichen wie hippen Aufgeräumtheit - von entsprechenden Web-Auftritten oder Zeitschriften, zum Beispiel)
-> Das art-Magazin sieht HGich.T die Zivilisation aufkündigen, eine veritable Lesart

Samstag, 9. Juli 2011

Pollyester / Pollyester Parking Lot II @ MaximilansForum, 07.07.2011

Lange, sehr lange schon sollte hier mal Pollyester gnadenlos abgefeiert werden. Seit 2008 hauen sie verlässlich eine großartige 12‘‘ nach der anderen raus. »You Are Amen« (2008), »Round Clocks« (inkl. dem trippigen »Indian«, 2009), »German Love Letter« (2010): alles allerfeinste Qualitätsware. Jede 12‘‘ ein Statement, dass aus der Masse des großen Elektro-Einheitsbreis heraussticht. Im Mai schließlich das Album, das die erschienenen Songs noch einmal versammelte und neue poppige Facetten von Pollyester zeigte. Zuletzt waren Pollyester unterwegs in New York und Umgebung, wobei der Film »Earthly Powers« entstand, der Pollyester an „verwunschenen Orten“ und „aufgegebenen Plätzen“ wie einer entweihten Kirche oder einem verlassenen Nobelhotel zeigt.

Daraus wurde nun „Pollyester Parking Lot II“ im MaximiliansForum, die Fortsetzung vom „Pollyester Parking Lot“ des Frühlings 2010, das, wie sich das heute so gehört, ebenfalls Kunst und Party verband. Für die zweite Episode des Parkplatzes wurde von mehreren Künstlern eine sinkende Kirche in die ehemalige Fußgängerunterführung gebaut, ein Nachbau der „Church of the Little Green Men“, die Pollyester in den Catskill Mountains im US-Bundesstaat New York entdeckten. Das Ganze geht noch bis zum 23. Juli, verschiedene Installationen und Performances werden gezeigt, und natürlich Partys gefeiert, unter anderem eine neue Ausgabe von Zombocombo, bei denen Polly ja auch stets ihre Finger im Spiel hat und auflegt. Zur Eröffnung am 7. Juli spielten Pollyester, also Polina Lapkovskaja (alias Polly) und Manuel da Coll (alias Yossarian, nach der genial schrägen Figur aus Catch 22) plus Band, wenn man so will. Zunächst bekam man aber den Film zu sehen, eine Art Doku-Collage, aber wie das so ist bei öffentlichen Filmvorführungen in einem Party-Umfeld, kam dabei zwischen Bier Holen, Zigarette rauchen und Labern nicht viel rum. Danach wurde das ausschließlich aus Hipstern bestehende Publikum noch etwas mit Iggy Pop und Velvet Underground umgarnt, bevor es endlich hieß: Konzert.


Und gleich die erste Überraschung: Drummer Yossarian, Synthie-Mann Kaput und der Gitarrist (wer nur, wer?) spielen in der Kirche, Polly steht auf der gegenüberliegenden Seite, wo sie singt und ein paar Percussions bespielt. Wo hinschauen? Nach dem ersten Lied (»You Are Amen«) wechselt aber auch Polly in die Kirche, so dass sich ein schönes Tryptichon mit Polly in der Mitte ergibt. Die drei im ersten Stock müssen sitzen oder sich bücken, nur Yossarian im Kircheneingang kann aufrecht stehen, muss dafür aber in Kauf nehmen, kaum gesehen zu werden. Von der ersten Sekunde an bin ich mitgerissen, das Publikum insgesamt braucht wohl etwas länger, irgendwann sind aber alle euphorisiert, naja, zumindest alle, die sich in der Nähe des Kircheneingangs aufhalten. „Und du kommst schrecklich ins Schwärmen, in deinen Worten ist Exzess…“ singen Ja, Panik in »Mister Jones & Norma Desmond« und kritisieren damit zurecht eine überkommene und langweilige Form der Pop-Berichterstattung. Deshalb hier mal ganz nüchtern: es war ein sehr sehr guter Auftritt.

Und warum, wenn doch noch nichtmal das gesamte Publikum total ausrastet, wie das immerhin bei jeder Party von Frittenbude der Fall ist? Wegen der treibenden, hypnotischen Wirkung der Musik von Pollyester, wegen ihrer Tanzbarkeit, genau so aber auch wegen ihrer Interessantheit und Verspieltheit. Die Musik von Pollyester ist Party in schlau. Das Herz dieser Musik ist das Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug, das die Songs – und die Tänzer – unaufdringlich, aber zwingend vorantreibt. Die BPM-Zahl bewegt sich dabei oft im unteren Bereich, so dass der Bass ausreichend Platz bekommt, um diese catchy Basslines zu spielen. Hier ist er vielleicht, der „Techno-Gott“ von Rainald Goetz, nur dass er eben nicht plump „Bum Bum Bum“ sagt, sondern „Bum Bumbuuum Bumbum Bumbuuum“ und ähnliche Sachen. Gewiefter halt, gewiefter auch als 99% der restlichen elektronischen Musik, die im Moment so um den Globus schwirrt.

Auf diese unglaublich tighten Rhythmen werden Pollys hypnotisch-zickiger Gesang und einzelne, oft simple Synthie-Spuren gelegt. Wobei sich auch der strenge Minimalismus Pollyesters zeigt: kein Song, der auch nur nur ein Element zu viel hat, nichts wird hier für den Effekt gemacht, alles passt seltsam organisch zusammen. Und weil diese einzelnen Elemente so sorgsam ausgewählt sind, kommen am Ende eben trotzdem vielschichtige, überbordende – und überaus tanzbare – Songs raus, bei denen man sich selten auf mehr als zwei Sachen konzentrieren kann und in den besten Momenten alles miteinander zu verschmelzen scheint.

Live ist diesmal noch eine Gitarre dabei, die sehr passende, funkige Sachen zum Pollyester-Sound beisteuert. Das gibt einigen Songs noch eine extra Note, verdrängt aber auch ein wenig den Synthie und nimmt den Songs manchmal eine Spur dieser Spannung, die sonst das Resultat der minimalistischen Herangehensweise ist. Interessanter als 1:1 die Platte nachzuspielen ist das aber allemal.


Oft werden die Songs nach einer Weile durch einen rhythmisch ungeraden Teil gebrochen, in denen Polly in einen emotionslosen Sprechgesang wechselt, der sich sehr viel von den Chicks on Speed abgeschaut hat. Der Loop wird durchbrochen, wenn der Song nach diesen Breaks wieder durchstartet, hat er die doppelte Kraft. Das hat also ungefähr die Wirkung von Bässe raus, Bässe rein, dem Abfahrt-Signal eines jeden Dorf-DJs, ist aber zehnmal innovativer und interessanter und macht deshalb auch zehnmal mehr Spaß.

Pollyester spielen so ziemlich alle Songs des Albums. Höhepunkte sind dann auch die Höhepunkte des Albums: »Round Clock« mit seiner simplen wie infektuösen Synthie-Melodie, »Concierge d’Amour«, der „Hausmeister der Liebe“ mit seinem 80er-Jahre Synthie (bei dem ich immer an »Ghost Busters« denken muss), oder »Old Shoe« mit seinem melancholischen C64-Computerspiel-Sound. Unter allem wie gesagt der tighte Groove von Schlagzeug bzw. Percussions und Bass. Und der mal glasklar-feenhafte, mal affektiert-zickige Gesang von Polly.

In der Spex wurden Pollyester mit Les Rita Mitsouko, bzw. Polly mit der Sängerin von Les Rita Mitsouko, Catherine Ringer, verglichen. Der Gesang und das Pop-Verständnis Pollys, aber auch die 80er-Jahre Synthies sorgen für diese Nähe zu „Glam-Pop und New Wave“. Aber auch die Disco ist nicht weit entfernt: der Munich Sound, den Giorgio Moroder in den 1970ern mit Donna Summer entwickelte, ist gleich um die Ecke vom Sound of Pollyester. Auch das Münchener Label Gomma (u.a. Munk) überführten und überführen den Munich Sound und die verwandte Italo Disco stilsicher (das heißt vor allem immer knapp vorbei am Kitsch) ins neue Jahrtausend, die mit Mixen von Hell und Bands wie u.a. Hercules and Love Affair während der letzten Jahre eine regelrechte Renaissance erfuhr. Pollyester haben dennoch einen unverwechselbar eigenständigen Sound kreiert. Minimalistisch und trotzdem verspielt, verwunschen und gleichzeitig hypnotisch, intelligent und dennoch mit der nötigen treibenden Kraft, um zum Tanzen zu überreden. Ein sehr sehr gutes Konzert eben.

Pollyester: Earthly Powers
Permanent Vacation

-> Die Artist-Page von Pollyester bei Permanent Vacation
-> Pollyester Parking Lot II

Dienstag, 24. Mai 2011

Spex-Replik: auf der Suche nach dem verlorenen Protestsong?

Die Mai/Juni-Ausgabe der Spex hebt einen 21jährigen Bob Dylan anlässlich dessen 70. Geburtstags aufs Cover und vermeldet dazu das Verschwinden des Protestsongs. Nicht nur könnte man langsam einmal anerkennen, dass Bob Dylan sich spätestens mit »John Wesley Harding« aus dem Jahr 1967 von Protestsongs komplett lossagte, dass er außerdem zeitlebens die ihm immer wieder zugeschriebenen Rollen als Prostest-Sänger und Stimme einer Generation vehement von sich wies. Es fragt sich auch, welcher Idee von Protestsong die Spex da hinterherläuft. Wenn man unter einem Protestsong ein Lied mit explizitem politischen Inhalt versteht, vorzugsweise gegen einen Krieg, vorgetragen mit Klampfe und Mundharmonika, dann ist der Protestsong natürlich schon lange tot. Und zwar zu Recht. Aber eben auch nur dann.

Denn wenn eine Definition von Protestsong auch Lieder umfasst, die sich textlich reflektierter, indirekter oder mehrdeutiger geben (oder ganz auf Text verzichten), und die sich des gesamten Instrumentariums und aller Praktiken des soeben angebrochenen Jahrzehnts Nr. 6 nach den 1960ern bedienen dürfen, dann ist der Protestsong alles andere als tot. Dann befindet sich in der gleichen Spex mit der Rezension von Ja, Paniks »DMD KIU LIDT« eine Besprechung eines erstklassigen Protest-Albums. Dann braucht man nur drei Monate zurückzublicken und man findet mit PJ Harveys »Let England Shake«, dem Album des Monats der letzten Spex, ebenfalls ein Album voller Protestsongs, sogar Lieder gegen den Krieg. Dann entdeckt man in den jeweils letzten Veröffentlichungen allein der hiesigen Szene eine ganze Heerschar von Protestsongs. Ob »Soldatin oder Veteran« von Gustav (oder »Verlass die Stadt«, oder »Abgesang«, oder…), ob »Bloß weil ich friere« von den Goldenen Zitronen (oder »Börsen crashen«, oder »Aber der Silbermond«), ob »Die Folter endet nie« von Tocotronic, oder »Convenience Shop« von den Sternen. Zum Teil direkter und plumper, als man das von einigen Bands gewöhnt ist, wird in all diesen Liedern eine Unzufriedenheit geäußert, gegen bestehende Zustände protestiert. Und da ist jetzt weder groß elektronisch was bei, noch Hip Hop oder was es sonst noch alles an schönen Schubladen gibt.

Die ersten Zeilen, die auf dem neuen Album von Ja, Panik gesungen werden, lauten „Wohin ich blicke, seh‘ ich jemanden, der sich für jemand anderen zum Trottel macht, und ich befürchte, das hat sich nicht einmal, nein das hat sich niemand ausgedacht.“ »This Ship Ought to Sink« heißt der Song, und was mit dem Schiff gemeint ist, dürfte klar sein, nur gibt es eben keinen eindeutig auszumachenden Verantwortlichen, kein klares Feindbild. In »Barbarie« heißt es „Es steckt in meinem Kopf, es klebt an meinen Schuh’n, they brought it on the news last afternoon, the dark times they’ve just begun, there’s darkness in the years to come, […] I could easily blame it on somebody else, it’s all to blame on me, I’m the last born of an incest dynasty, my mother is the Barbarie itself.” Die eigene Verstrickung in das wie-es-nun-mal-Ist wird hier thematisiert, ist es deswegen kein Protestsong mehr? Braucht ein Protestsong naive Vereinfachungen, klare Fronten, schwarz-weiß-Malerei? Würde ein Protestsong heute so überhaupt noch funktionieren? Abseits von Wolfgang Niedecken oder Gunter Gabriel, bei denen es das eben nicht mehr tut? Ich werde den Teufel tun und aus dem Titelstück »DMD KIU LIDT«, kurz für „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“, aus diesem Dylan-Monster (aber wir wollten Dylan ja endlich einmal in Ruhe lassen) einzelne Zeilen zitieren. Denn, wie der Titel schon anmerkt, liegt – auch das eigentlich eine alte Spex-(via-Blumfeld-)Weisheit – das Politische im Privaten, hängt alles mit allem zusammen. Dennoch finden sich auch in diesem Song explizit politische Zeilen, die radikalsten und zornigsten des Albums, ja, es wird sogar eine vage Utopie formuliert. Einiges an Protestongs also, mithin Lieder, die im Vergleich zu den vorigen Alben von Ja, Panik vielleicht an Lautstärke und Schmissigkeit verloren, an Intensität und Dringlichkeit jedoch unglaublich zugenommen haben. Etwa wenn Sänger Andreas Spechtl in »Nevermind« leicht zähneknirschend spricht, begleitet nur von einer unheimlich zornigen, elektrisch verstärkten Gitarre. Mit Sicherheit das großartigste deutsch-und-englischsprachige Protest-Album des Jahres.


Eine Mischung aus Falco und Dylan und explizit wie implizit politisch: DMD KIU LIDT

Aber auch auf internationaler Ebene kam mit PJ Harveys »Let England Shake« erst vor kurzem ein Meilenstein musikalischer Protestkultur auf den Markt. Gnadenlos wird mit Englands Verwicklung in Kriege wie den Afghanistan-Krieg abgerechnet, oft in Liedern, die sich gegen Krieg allgemein äußern. Der Titelsong rechnet mit dem blutverschmierten England ab; „erzittern“, beben soll es, schwer vom Gewicht der „silent dead“, wie es da im Atlantik rumliegt. »On Battleship Hill« ist eine universelle Kriegs-Parabel (auch wenn sie auf ein Geschehnis von vor 80 Jahren anspielt), die die Sinnlosigkeit von Kriegen anprangert. Denn der einzige Sieger ist die „cruel nature“, die den vom Krieg vernarbten Hügel wieder überwuchert. Aber auch 80 Jahre nach der Schlacht liegt dort noch „a hateful feeling“ in der Luft, das daran erinnert, dass hier einst ein anderer Auswuchs der grausamen Natur seine Spuren hinterließ. »The Words That Maketh Murder« nimmt die Perspektive eines Soldaten ein und schildert die Ungeheuerlichkeiten des Kriegs aus dessen Sicht, gleichzeitig erinnert der Song daran, dass es Worte sind, die das Morden erst möglich machen. Eine Schrammelgitarre, Handclaps, eine schunkelige Trompete und ein Sixties-Männer-Chor, der „The words that maketh murder“ trällert, begleiten das Lied und verleihen ihm trotz der düsteren Stimmung eine gewisse Leichtigkeit, Tanzbarkeit sogar. Schönes Kunststück, das PJ Harvey öfter auf diesem Album gelingt. Moderne Protestsongs müssen also keineswegs dröge sein, gerade deshalb wird »Let England Shake« über Jahre hinweg ein Referenzpunkt in Sachen Protestlieder bleiben.


PJ Harvey hat vor, zu jedem Lied des Albums ein Video zu drehen. Viele davon sind schon auf Youtube.

Man hätte also genau so gut einen 26jährigen Andreas Spechtl auf das Cover nehmen können, und dazu die Wiederentdeckung des Protestsongs verkünden können. Oder eine 41ährige PJ Harvey schon in der letzten Ausgabe, mit der gleichen Schlagzeile.

Aber vielleicht fehlt ja vor allem der Protest, nicht die Lieder dazu? Schließlich kann jedes Lied als Protestsong hergenommen werden, solange eine Community oder Protest-Bewegung sich damit identifiziert. In diesem Sinn wären die oben genannten Songs lediglich „politische Lieder“, die sich zu Protestsongs eignen würden. Die Eignung als Protestsong ist allerdings keineswegs eine Qualität, die ausschließlich im Lied selbst liegt. Aber auch hier gilt: keine Protestsongs mehr? Bei mir liegt noch eine Platte vom vorletzten Hamburg-Besuch rum mit dem schönen Titel »Plötzlich sagen alle, ich sei konkret ein Gentrifizierungswixer, dabei hab ich mir schon seit längerem immer voll geil einen auf St. Pauli abgewixt«. Eine EP mit Protestsongs gegen die Gentrifizierung in Hamburg, der unter anderem Remixe von den bereits erwähnten Gustav und den Goldenen Zitronen enthält. Auch der »Frappant-Haus-Song« des Due Nutti Soundsystem (die Frau und Herren Rica Blunck, Jacques Palminger und Viktor Marek, auch unter dem Name Jacques Palminger & the Kings of Dub Rock unterwegs), eine Neu-Interpretation des Ton-Steine-Scherben-Hits »Rauch-Haus-Songs« von Ton, Steine, Scherben wurde zur Zeit der Proteste gegen die grassierende Gentrifizierung in Hamburg in den Kampf geschickt. „Nur“ ein Cover also, aber ist die Aktualisierung eines alten Protestsongs nicht eine dieser Zeit angemessene Strategie, ist der Verweis auf bereits geführte Kämpfe nicht gewitzter, als einen „neuen“ Rauch-Haus-Song zu schreiben, der ja doch nicht mehr „neu“ sein könnte?

Und der Klampfe-Protestsong a la „Masters of War“, auf den sich in der Spex auch der alte Protest-Sänger Kristof Schreuf in seinem Protestsong-Abgesang bezieht, ist ja aus gutem Grund aus der Mode. Nicht nur tut er, wie Schreuf schreibt, der Musik Gewalt an, indem er Inhalt über Form stellt. Auch sind die Zeiten nicht mehr dieselben wie 1963. Die Probleme sind nicht mehr so simpel, wenn sie das überhaupt jemals waren. Zwar ist Krieg immer noch Krieg, aber die Verflechtungen und Verwicklungen bis hinunter zu einem selbst treten heute deutlicher hervor, als noch in der bipolaren Welt des Kalten Kriegs. Der Klampfe-Protestsong hat sich angesichts dessen überlebt, er war immer schon viel zu naiv. Die Reaktivierung eines alten Protestsongs in neuem Gewand kann dennoch eine Strategie sein, diesen Umstand zu reflektieren, und trotzdem klar gegen etwas Position zu beziehen. So geschehen bei „Masters of War“ von Anika, der mit kühler, unnachgiebiger Frauenstimme vorgetragen wird, und mit einem Dubstep-Beat unterlegt ist, der stark an »My Generation« von The Who erinnert. Das bessere Lied auf dem Album von Anika ist trotzdem ein Cover des Bubblegum-Pop-Hits »Terry« der Bubblegum-Pop-Ikone Twinkle.

Spex hat zusammen mit Byte.FM nach neuen Protestsongs gesucht, die auf die „politischen, sozialen oder kriegerischen Konflikte der vergangenen Monate“ Bezug nehmen. Sicher wieder Männer, die das ausgeheckt haben. Protestsongs, die als Antwort auf einen derartigen Aufruf entstanden, möchte man sich am besten gar nicht erst anhören. Am erträglichsten, am angebrachtesten auch, schiene mir die Herangehensweise eines gewissen Knarf Rellöm auf einem Hamburger-Schule-Herzschmerz-Sampler namens »Paradies der Ungeliebten«. In »Warum ‚Paradies der Ungeliebten‘ ein Scheißtitel ist« regte er sich einst über Herzschmerz-Songs auf und machte sich über deren Struktur lustig. „Ich steh‘ vor dem Fenster und komm nicht rein“ hieß es da, und zum Sampler sagte er nur „NMV – nicht mein Verein“. Aber seht selbst, was dabei herausgekommen ist, die Jury immerhin hätte mit dem Ja-Panik-Sänger Andreas Spechtl, dem Lassie-Singer- und Britta-Mitglied und mittlerweile bestens auf Solopfaden reisenden Christiane Rösinger, dem u.a. Tocotronic-Manager Stephan Rath und dem Byte.FM Moderator Klaus Walter nicht vielversprechender ausfallen können.

-> Die 10 Gewinner-Protestsongs auf Spex.de
-> Ich bin wie immer zu spät, mittlerweile hat die Spex mal wieder (das dürfte auch die eigentliche Absicht gewesen sein) eine bunte Debatte über Politik und Musik losgetreten
-> das Juice Magazin, die Hip-Hop-Dependance des Piranha Verlags, in dem auch die Spex verlegt wird, kann im Deutschrap keinen Mangel an Protestsongs feststellen, viel eher sollte Hip Hop mal wieder in die Debatten aufgenommen werden

Ja, Panik: DMD KIU LIDT
Staatsakt, 15.04.2011





PJ Harvey: Let England Shake
Island, 11.02.2011

Dienstag, 3. Mai 2011

Ausgegraben: Punk/NDW-Fanzines

Leute, wie die Zeit vergeht. Fast zehn Jahre ist das Spektakel des deutschen Punk der Nuller Jahre, die Veröffentlichung von Jürgen Teipels Interview-Geschichtsband »Verschwende deine Jugend«, jetzt schon wieder her. Uralte Punk/NDW-Bands hatten sich angesichts des durch Teipels Buch verstärkten erneuten Interesses wiedergegründet: DAF, Slime (alias Rubberslime), die Radierer oder Die Mimmi’s; nur aus der ewig angekündigten Male-Reunion ist nichts geworden. Auch die Fehlfarben hatten, allerdings schon vor Erscheinen des Buchs, wieder zusammengefunden. Was in diesem wichtigen Buch auch immer wieder deutlich wurde: welche große Rolle Fanzines für die Szene spielten.

Etliche Ausgaben zwei der wichtigsten Fanzines, dem Ostrich (ab 1977) und dem Heimatblatt (ab 1979), aus der wichtigsten Stadt, Düsseldorf, kann man seit einiger Zeit auf der Homepage von Franz Bielmeier, seines Zeichens Gitarrist und Texter bei den Fehlfarben-Vorgängern Mittagspause, Ostrich-Gründer und Betreiber des Labels Rondo, finden. Nicht nur Bielmeier spielte und schrieb gleichzeitig, auch Peter Hein (u.a. Mittagspause, Fehlfarben, später Family 5) Jürgen Engler, Bernward Malaka (beide Male, später die Krupps) oder Gabi Delgado-Lopez (DAF) schrieben über die Szene, deren wichtigste Protagonisten sie gleichzeitig waren.

Bei der ganzen Sache ging es zu gleichen Teilen darum, sich mitzuteilen, Gleichgesinnte zu finden und mit Geheimwissen anzugeben, aber auch, die eigene Identität auszuformen. Leidenschaft ist das Stichwort, jeder Seite merkt man den Enthusiasmus an, mit dem geschrieben wurde, ganz gleich ob Lobhudelei oder Verriss. Fabelhaft oder miserabel, ein dazwischen gab es nicht. Außerdem jede Menge Klatsch und Tratsch, und jede Menge dadaesken Ulk. Zentral natürlich die lokalen Bands, Plattenläden, Clubs, Veranstaltungen und Konzerte.

Links der erste Ostrich, rechts die dritte Ausgabe des Heimatblatts. David Bowie, The Modern Lovers, Lou Reed, Pattie Smith, The Stooges, und Hansaplast, Male, Mittagspause, S.Y.P.H., DAF, Buzzcocks, 999: nur einige der großen Namen der Zeit.

Was beim Durchstöbern der mit punkiger Schludrigkeit zusammengeklebten Zeitdokumente aber auch auffällt: wie sehr es um bloße Informationen ging. Wer in einer Band spielte, wie lange es die Band schon gab, welche Platten von ihr draußen waren, die Liedtexte, was der Punk gerade in England macht, was in Hamburg los ist. Und das keineswegs nur bei lokalen deutschen Bands, sondern auch bei mittlerweile überall als Proto-Punk anerkannten Bands wie Velvet Underground oder den Modern Lovers. An diese Infos war damals offensichtlich nur schwer ranzukommen; die etablierten Medien berichteten ausschließlich über die lahmen und zahmen Ausläufer des 60iger Jahre Rock ‚n‘ Roll, sei es Progrock oder Folk-Rock, oder über Disco. Über Punk wurde, wenn überhaupt nur negativ, etwa als „Nazi-Bewegung,“ geschrieben.

Neben den einschlägigen englischen Punkbands wie Sex Pistols, Clash, 999, Slits, Buzzcocks, Wire, Sham69, Vibrators, Adverts und wie sie alle hießen fanden vor allem lokale, das heißt Düsseldorfer Bands und damit die erste Liga der ursprünglichen deutschen Punkbewegung in die Hefte: Male, Charley’s Girls, deren Nachfolgeband Mittagspause, deren Nachfolgeband Fehlfarben, DAF, der Plan, ZK, S.Y.P.H., KFC, aber auch Hans-A-Plast (aus Hannover) und Abwärts (aus Hamburg) und viele weitere heute vergessene Namen. Auch wenn Düsseldorf das Hauptthema war (wie auch nicht), gab es von Zeit zu Zeit Städte-Specials, allen voran aus London und Hamburg. Erstaunlich auch, wie viel Platz Bands und Leuten wie Lou Reed und den Velvet Underground, Iggy Pop und den Stooges, Patti Smith, Jonathan Richman und den Modern Lovers, Television oder David Bowie eingeräumt wurde. Erstaunlich trotz der Tatsache, dass diese Bands wie gesagt heute durch die Bank als Proto-Punk verhandelt werden. Die Ähnlichkeiten in der Herangehensweise und im Sound dieser Bands mit späteren Punkbands waren keineswegs nur im Rückblick als Kontinuität wahrgenommen worden. Die verschütteten Spuren von Velvet Underground über Patti Smith bis zu den Sex Pistols waren schon im Geburtsjahr des deutschen Punk erkannt worden. Diese Bands spielten tatsächlich eine aktive Rolle als Inspiration für deutsche Punk-Bands, waren nicht nur Referenzen aus der Vergangenheit, denen man im Nachhinein eine ähnliche Geisteshaltung zuschrieb.

Charley’s Girls, die Vor-Vorgänger-Band der Fehlfarben, coverten u.a. White Light/ White Heat von Velvet Underground, Roadrunner von Jonathan Richman and the Modern Lovers und No Fun von den Stooges

Es ist dann wohl Bands wie den Toten Hosen oder Slime zuzurechnen, dass das Wissen um Punk bei vielen heutigen Punks nicht weiter zurückreicht als bis zum magischen Jahr 1977. Davor: Hippie-Musik, danach und bis heute: Punkrock. So lautet die vereinfachende Formel. Sicher teilten aber auch schon damals nicht alle Punks die Meinung der Fanzine-Schreiber-»Avantgarde«. Nicht umsonst hatte sich die Punk-Bewegung bald in zwei oder mehr Lager aufgespalten, eine kreative, offene Fraktion auf der einen (sagen wir mal Intensität), eine dogmatische, formkonservative Fraktion auf der anderen (sagen wir mal Härte, auch gerne Alkohol und Gewalt), etwas später aber auch der bierernste politische Punk und die Antwort darauf, hedonistisch-ironischer Funpunk. Inklusive all der schönen Überschneidungen, Schattierungen und Fluchtlinien.

Nur manchmal fanden politische Themen, in die Hefte meist in überspitzter und ironischer Weise, etwa beim leichtfertigen Umgang mit Hakenkreuzen. Überhaupt war Ironie damals noch eine neue und wirksame Waffe, die auf totales Unverständnis im Rest der Bevölkerung traf. Doch weitaus politischer und radikaler war die Machart der Hefte. Do-It-Yourself waren Fanzines ja sowieso, und auch in der Sprechweise und der Gestaltung wurde der Ethos des Punkrock auf das Papier übertragen. Die Texte waren begeistert, frech, ironisch, lustig, manchmal wie hingerotzt, oft persönlich und oft auch persönlich beleidigend. Auf die Distanz und vermeintliche Objektivität, auf die ganze Langeweile der professionellen Berichterstattung wurde geschissen. Heraus kam eine direkte, leidenschaftlich Position beziehende, eine anarchische Sprechweise. Und auch in der Gestaltung wurde dieser anarchische Habitus umgesetzt: durch Cut-up Collagen, durch das Belassen von (oft durchgestrichenen) Schreibfehlern, durch den Wechsel von Schreibmaschine und Handschrift, durch freies Layout.

Das allmähliche Ende dieser Fanzines kam um die Jahre 1979/1980. Die neue Musik war – (nicht erst) mit Alfred Hilsbergs begriffprägender dreiteiliger Serie »Neue Deutsche Welle - aus grauer Städte Mauern« im Musikmagazin Sounds 1979 – in den etablierten Medien angekommen, dem Monster ein Name gegeben. Das Informations-Vakuum bestand nicht mehr, damit schien auch die Notwendigkeit von Fanzines nicht mehr unbedingt gegeben (sicher ein Irrtum, da damit eben auch die spezifische Sprechweise der Fanzines verloren ging). Das ist in gewohnt direkter Weise gleich in der ersten Ausgabe des Streichs, einem Fanzine aus Dortmund, ausgesprochen:

„Ach, ansonsten überhaupt kauft euch doch die Sounds, wenn ihr was über neue Platten hören wollt, ich hab kein Bock mehr Scheissemistkacke.“

Alfred Hilsberg trifft als vielleicht den umtriebigsten Akteur der Szene natürlich als letzten die »Schuld«; das Ankommen von subkulturellen Szenen und Praktiken in der Mitte der Gesellschaft – in veränderter Form – ist ein nicht zuletzt von den Protagonisten gewollter und beförderter immanenter Prozess, der sich mittlerweile dutzendfach wiederholt hat. Vielleicht ändert sich dabei aber ja doch jedesmal auch die Gesellschaft ein wenig.

Der sich aufdrängende Vergleich mit Blogs (wie ganz zuletzt auch diesem) entscheidet sich meines Erachtens weniger mit der Erscheinungsform, sprich haptisches Zeitschriftenformat versus immaterielles Weblog. Etwas Gedrucktes und in der Stadt Ausliegendes wie zum Beispiel das Münchener Superpaper ist sicher erst einmal relevanter als ein im Extremfall von niemandem gelesener Blog. Andererseits kann ich mir in meiner Moosacher Wohnung jederzeit Beiträge auf beatpunk.org reinziehen, was nicht so einfach wäre, wenn das Ding nur im Conne Island in Leipzig ausliegen würde. Vielmehr scheinen mir Haltung, Absichten, Thematik und Sprechweise auschlaggebend für einen Fanzine-Vergleich. Die Frische von Ostrich oder Heimatblatt ist in diesem Blog jedenfalls nirgends zu finden. Bekackt, aber daran kann gearbeitet werden. Die Absichten sind nur teilweise die gleichen. Mitteilungsbedürfnis und Haltung teile ich aber bitteschön komplett. Es lebe die Leidenschaft!

-> Der Ostrich bei rondo-ton.de, der leicht nostalgischen Homepage von Franz Bielmeier
-> Und das Heimatblatt auf derselbigen
-> Den Ostrich gibt es sogar wieder, nice twist of history, als Blog. Allerdings (leider) sehr viel wortkarger als damals; oft nur Musikvideos und dazu ein oder zwei Sätze
-> Ein Interview vom ehemaligen Zap-Fanzine-Schreiber Martin Büsser (RIP) mit dem Ostrich-Gründer Franz Bielmeier für die Intro
-> Ein Fanzine-Roundtable in derselben Intro-Ausgabe:
-> Die zeitgenössischen Medien über Punkrock, unter anderem der Spiegel-Schreckensbericht und Alfred Hilsbergs berühmte Serie über die »Neue Deutsche Welle«, auf der fantastisch umfangreichen Homepage von Highdive Records
-> Und ein Jürgen-Teipel-Auswirkungen-Artikel in wieder derselben Intro-Ausgabe
-> Über die Erinnerung an Punkrock/NDW (und die Rolle von Jürgen Teipels »Verschwende deine Jugend«) bei den angenehm reflektierten Leuten von paraplui.de
Damit aber auch endlich Deckel zu hier. Mehr über den frühen BRD-Punkrock folgt sicher!

Montag, 25. April 2011

Dean & Britta - 13 Most Beautiful… Songs for Andy Warhol’s Screen Tests


Immer wieder diese nicht tot zu kriegende Sixties-Referenzhölle. Beatles, Stones, Bob Dylan, der Sommer der Liebe, Drogen, Kennedys Ermordung, Kings Ermordung, Vietnam, Studentenunruhen, Woodstock… Oder auch Andy Warhol, seine Factory, Velvet Underground und Nico. Waren die 60er Jahre wirklich dermaßen archetypisch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts? Und sind sie das bis heute? Oder hat das eher was mit Meinungsführerschaften, Vermarktungsstrategien und Kaufkraft zu tun?

Ein neues Sixties-infiziertes Produkt steht jedenfalls schon seit letztem Jahr in den digitalen Ladentheken. Dean & Britta haben mit »13 Most Beautiful… Songs for Andy Warhol’s Screen Tests« die Andy-Warhol- und Velvet-Underground-Dose aufgemacht. Es handelt sich – wie es der Albumtitel schon verrät – um 13 Songs, die als Musik zu 13 von Andy Warhols »Screen Tests« entstanden. Darunter sind auch einige Remixe, auf einer zweiten CD sind vier weitere Remixe und vier „Original Mixes“ versammelt, die nicht für die »Screen Tests« verwendet wurden. Das ganze geschah auf Einladung des Andy Warhol Museums und des Pittsburgh Cultural Trust, bereits vor dem Release des Albums (bzw. der CD/DVD Box) tourten Dean & Britta damit durch die USA und die übrige Welt, bis 2012 sind weitere Aufritte rund um den Globus geplant. Am 26. April spielen Dean & Britta in Münster im Gleis 22 ihr einziges Deutschland-Konzert, allerdings werden dann Galaxie 500 Songs zelebriert, nicht die »13 Most Beautiful…« Sachen. Ich würde töten, um das zu sehen, habe aber erst vor kurzem wieder einmal gelernt, dass man manche Sachen nicht übers Knie brechen sollte.

Von den »Screen Test« hat man bisher in der Regel mehr gehört als gesehen. Erstmals sind parallel zur Veröffentlichung der »13 Most Beautiful…« Box auch einige der frühen Filme Andy Warhols auf DVD veröffentlicht worden. Warhol hat von 1964 bis 1966 400 bis 500 dieser »Screen Tests« gemacht. Eine unbewegte Kamera filmt das Gesicht des Porträtierten für drei Minuten, so lang wie eine 16-Millmeter-Filmrolle zum Durchlaufen braucht. Ziel Warhols war es, das „Innere“ der porträtierten Menschen – berühmte Schauspieler und Pop-Stars genauso wie Unbekannte aus dem Factory-Umfeld – zum Vorschein kommen zu lassen. Das bedeutete aber auch, dass die Kamera eine gewisse Unerbittlichkeit haben musste. Letztendlich, das zeigen die 13 »Screen Tests«, kommt es aber auf die porträtierte Person an, inwiefern sie diese Unerbittlichkeit zuließ oder ihr auswich. In jedem Fall aber findet eine Fetischisierung der Porträtierten statt, ein Effekt, der durch eine kaum wahrnehmbare Zeitlupe verstärkt wird: Die ursprünglich drei Minuten eines Films wurden auf vier Minuten gedehnt. Diese Fetischisierung wird durch die Musik nun natürlich verstärkt.



Dean & Britta, aus Deans Band Luna hervorgegangen und seit nunmehr fast 10 Jahren gemeinsam unterwegs, machen eigentlich einen auf Serge Gainsborough und Jane Birkin. Duette mit tiefer und hoher Stimme, mit viel Gehauche, chansoneske Pop-Songs, viele Streicher, viel Schmalz. Hart, extrem hart an der Grenze zu Kitsch. Dean Wareham mit tiefer Stimme, ganz ungewohnt, wenn man an die drei Alben der unsterblichen Galaxie 500 denkt, deren Sänger und Gitarrist Dean einst war. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mit „13 Most Beautiful…” haben sie die Chanson-Pfade verlassen und sich wieder mehr in Richtung Velvet Underground bewegt. Das passt, weil Velvet Underground in Warhols Factory ihren Anfang nahmen, weil mit Lou Reed und Nico auch auf den »Screen Tests« zwei Velvets zu sehen sind, aber auch weil Dean Wareham seit Galaxie-500-Zeiten Fachmann in Sachen Velvet Underground ist. Das Ergebnis ist dann auch entsprechend fantastisch: mal bedrohlich, mal traumhaft, mal mit, mal ohne Gesang ist zu jedem »Screen Test« ein passender Song entstanden. Dean & Britta bedienten sich bei Covern, Dean & Britta Stücken und eigens für das Projekt geschriebenen Songs.

Für den »Screen Test« von Nico wurde das Bob Dylan Stück »I’ll Keep It With Mine«, das erst in der Version von Nico selbst bekannt wurde, gewählt. Dean & Brittas Version ist um einiges leichter und luftiger, ganz dem vergleichsweise lockeren »Screen Test« entsprechend, in dem Nico mit ihren Haaren und einer Zeitschrift spielt. Britta versucht erst gar nicht, Nicos eindringlichem, düstern Gesang zu imitieren, und optiert stattdessen für einen hellen, glasklaren Gesang, der aber ebenso schlüssig ist. Der vorsichtige Autotune-Effekt des Scott Hardkiss Remix‘ sorgt für einen Hauch Modernität und verhindert vor allem, dass die Angelegenheit all zu authentisch daher kommt.

Das Hauchen der Texte ist bei manchen Liedern geblieben, so zum Beispiel beim Cheval Sombre Cover »I Found It Not So«, das Ann Buchanans »Screen Test« begleitet. Statt kitschig zu wirken, verleiht es dem Song hier aber Tiefe, die Traurigkeit und das Geheimnisvolle des Songs gewinnen an Intensität. Genauso traurig und etwas verloren wirkt auch Ann Buchanan.

Lou Reeds arschcooler »Screen Test«, in dem er sonnenbebrillt eine Coca-Cola-Flasche leert, und damit eben auch verhindert, dass die Kamera sein „Inneres“ ablichten kann, wird ebenfalls mit einem Cover bedacht. Die Velvet Underground Rarität »I’m Not a Young Man Anymore« unterlegt, düster und bedrohlich vom Bass bis zum Gesang, das unfreiwillige Product Placement des Erfrischungsgetränke-Herstellers. Die Textzeilen müssten Lou Reeds performter Coolness eigentlich entgegenwirken, bei derart rasanter und bedrohlicher Musik kann davon allerdings nicht die Rede sein.

Aber auch wenn kein Velvet-Stück gecovert wird, kommen die Lieder entschieden Velvet-like rüber. Schon das erste Stück, »Silver Factory Theme«, wartet mit dieser Velvet Underground eigenen Spannung auf, ein Thema wird immer wieder auf der Gitarre wiederholt, dass die Spannung und diese gewisse Bedrohlichkeit immer weiter anschwellen. Irgendwann kommt dann doch noch ein erlösender Break, nur damit das Spiel von vorne beginnen kann, auf der nächsten Stufe. Andere Songs nehmen sich die ruhigen Lieder der dritten Velvet Platte zum Vorbild, wirken verträumt, düster oder traurig. Trotzdem wirken die Songs nie wie schlichte Kopien, dafür ist Dean Wareham ein zu starker Songwriter bzw. Song-Aneigner.

Dass sich bei einem derartigen Projekt Nostalgie nicht vermeiden lässt, liegt auf der Hand, zumal alle Songs die Wirkung der Filme unterstützen und nicht etwa brechen. Trotzdem ist ein eigenständiges Album herausgekommen, dessen Lieder alle eine intime, sorgfältige Auseinandersetzung mit dem jeweiligen »Screen Test« darstellen, die aber auch ohne Film ihre Wirkung nicht verfehlen. So lange derart schöne Sachen dabei heraus kommen, kann sich ruhig weiter in der Sixties-Referenzhölle herumgetrieben werden.



Dean & Britta: 13 Most Beautiful... Songs for Andy Warhol's Screen Tests
Double Feature, VÖ 27.07.2010

-> Dean & Britta
-> Dean & Britta spielen am 26.04. in Münster im Gleis 22

Samstag, 23. April 2011

Chuckamuck @ Rote Sonne, 20.04.2011


Schon zum zweiten Mal sind Chuckamuck, meine Band der Stunde, jetzt in München. Schon im August letztes Jahr haben die super Leute von Razzle Dazzle im Puerto Giesing ein Konzert mit Chuckamuck organisiert, diesmal luden die super Leute von Club 2 zum Chuckamuck Konzert in die Rote Sonne. Letzten August wusste ich noch gar nichts von diesem Wirbelsturm einer Band; aber auch diesmal, dank Spex bestens informiert und dank Spex-CD sofort angesteckt, sollte ich es dennoch nicht zum Konzert schaffen. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: die Tickets waren schon gekauft. Nur stellte sich blöderweise heraus, dass der Termin mitten im Jahresurlaub liegt. Selbst unsinniges aus-dem-Urlaub-Zurückkehren wurde nicht belohnt: bevor die vier Jungspunde überhaupt die Bühne betraten, mussten wir schon wieder zurück, den letzten Zug nach Oberaudorf nehmen. Na, wenigstens kaufte mir meine Freundin noch die CD als Trost. Statt eines Konzertberichts hier also wie es gewesen sein könnte.

Die Leute treffen nur recht spärlich ein, bis Chuckamuck schließlich die Bühne betreten, sind aber wohl doch so 50 Leute da. Damit ist die Bude zwar alles andere als voll, Chuckamuck lassen sich davon allerdings nicht irritieren und fangen gleich mit dem rasanten Rock ‚n‘ Roll Stück »Outta my Way« an. Das Programm des Abends ist abgesteckt: Ausflippen ist angesagt, wildes Durcheinander, Springen, Tanzen, Pogen auf und vor der Bühne. Auch das nächste Lied »Mars Mandel«, ebenfalls ein unkontrollierter Rock ‚n‘ Roll-Köter, der ebenjenen Schokoriegel anpreist, verspricht dieses schönste aller Konzerterlebnisse.

Gerne würde ich die Band auf den Punkt bringen, aber was soll man machen, wenn Götz Adler in der Sendung »Neuland« bei Byte FM das schon für einen erledigt hat? Am besten wohl einfach Götz Adler sprechen lassen, also: „Endlich, endlich, endlich schafft es hier bei Byte FM mal ein Haufen Rotzlümmel auf den Thron des Albums der Woche. Chuckamuck heißen sie, kommen aus Berlin, das Testosteron und der Alkohol sprudeln gut bei diesem reudigen Quartett. Seit ihren Anfängen vor drei Jahren sind Chuckamuck zu Recht die Lieblinge des Untergrunds der deutschen Hauptstadt, denn mit ihrer Unbedarftheit und Frische in Kombination mit dem unkontrollierten Talent in zweieinhalb Minuten mit einfachen deutschen Worten eine romantische Geschichte von Berlins Straßen, von Saufgelagen oder Begegnungen auf Parties zu erzählen, sind sie erstaunlicherweise ziemlich allein auf weiter Flur. Dabei reden doch immer alle vom Komasaufen. Wo Bitteschön sind die Bands, wo ist das Sprachrohr dazu? Man muss jetzt Chuckamuck auch nicht unbedingt zur Alibi-Band einer anderen Jugendkultur machen. Aber Chuckamuck vermitteln das Gefühl des Vorwende-Berlins mit den Mitteln des Sixties-Power-Garagenpop, der auch seine himmelhochjauchzenden Mitgröl-Momente hat. Und sie zeigen allen langweiligen Tighty-Pants, Indie-Rockbands und hängengebliebenen Progrock-Gitarrenlehrern abenteuerlustig den Stinkefinger. Trinken, Rauchen, Knutschen, feist und vergnügt bis zum Umfallen.“ Genau das ist Chuckamuck und zur Auslebung all dieser jugendlichen Tugenden soll man heute Abend ausreichend Gelegenheit bekommen.


Und dann kommt auch schon eines meiner Lieblingsstücke, »Mein Hund und ich«, mit den fabelhaften und kraftspendenden Zeilen „Ich hab aufgehört zu reden/ Denn dann hab ich/ Mehr Zeit zum Trinken / Ich hab aufgehört zu essen/ Denn dann hab ich/ Mehr Zeit zum Rauchen.“ Affirmation von durch die Mainstream-Kultur als »schlecht« festgelegten Eigenschaften war eigentlich schon immer eine gute Idee, oder? Natürlich ist das Lied in allererster Linie ein Kind gelebter Jugend mit den ihr eigenen Alkoholexzessen und exzessivem Zigarettenkonsum. Aber warum eigentlich wird so etwas stets mit Jugend assoziiert? Leicht überhöht lässt sich das trinken-rauchen-mit-dem-Hund-auf-der-Veranda-abhängen-Dasein des Liedes jedenfalls als angenehmes sich-nicht-Scheren um die spezifischen Anforderungen dieser unserer Zeit an einen Menschen lesen. Im Kern ist aber auch das ein Liebeslied, der Grund all dieser Trinkerei und Raucherei ist nämlich, „dass du weg bist.“ Aber genau in dieser Schlichtheit der Texte liegt ja die Kraft der Lieder und der Charme von Chuckamuck.

Chuckamuck bemühen in Interviews gerne Vergleiche zu den amerikanischen Bands Demon’s Claws oder den Black Lips. Schon grob zehn Jahre im Geschäft und ebenfalls wilden Sixties-Rock ‚n‘ Roll spielend fehlt diesen Bands aber das letzte Quäntchen Frische und Unkontrolliertheit. Es sind Vorzeige-Sixties/Garage-Revival Bands, und als solche ein wenig langweilig, Teil eines Trends, der in den USA seit Anfang/Mitte des letzten Jahrzehnts immer mehr Anhänger findet, und zu denen man auch die fabelhaften Oh Sees zählen darf. Viel passender scheint mir aber, zu behaupten, dass Chuckamuck eine überaus gelungene Kreuzung aus Libertines (und damit aus Rock ‚n‘ Roll all the way back bis zu den Sonics oder Chuck Berry) und den frühen Tocotronic sind. Deutschsprachiger Garage-Pop war noch nie so erfrischend (Gegenbeispiel erwünscht!), die Roheit der Songs spricht für sich, sowohl was die simplen Songstrukturen angeht, als auch die Herangehensweise bei der Aufnahme der Platte. Hier wird bestimmt und gekonnt in eine Lo-Fi-Tradition getreten, die nicht erst mit Tocotronic begann, und die schon gar nicht die Libertines erfanden, zu deren herausragenden Beispielen diese beiden doch so verschiedenen Bands heute aber gehören. Zwar sind die Texte nicht derart neu und sophisticated, wie es die frühen Toco-Texte waren, sie kommen aber genauso aus-der-Hand-geschüttelt rüber, sind die perfekte Entsprechung der primitiv anmutenden Arrangements und der schludrigen Spielweise von Chuckamuck.

Mit dem kleinen Hit »Ostsee« bricht vollends Chaos über die Rote Sonne herein. Alles springt durcheinander hin und her, Sänger und Gitarrist Oska Wald kommt von der Bühne ins Publikum. Ich verliere meine Brille, und ein anderer tritt auch gleich drauf. Egal. Bei einem derart ungestümen Lied schiebt man den Gedanke an die 150 Euro für ‘ne neue Brille leicht beiseite.



Die vier Jungs sind allesamt gerade mal Anfang 20, junge Kerle also, genau wie die Jungs von 100 Robota etwa, oder MIT. Wo 1000 Robota hamburgisch-intellektuell und aufmüpfend daherkommen, und wo MIT mit Kölner Kühle und Abgebrütheit glänzen, verkörpern Chuckamuck wieder einmal die hedonistische Seite Berlins. Dem Perfektionismus von MIT wird Schludrigkeit entgegengestellt. Während 1000 Robota sich offen politisch, anklagend geben, nehmen sich Chuckamuck einfach, was sie wollen, so scheint es.

Nach dem Chaos von »Ostsee« gibt es mit »Dan Treacy« eine kurze Verschnaufpause. Nur zur Akkusitkgitarre trägt Wald eine schon Tausendmal, aber dann genau so eben auch noch nie gehörte Ballade vor, die ein Treffen mit der zeitweise ziemlich tragischen Figur des Sängers der Television Personalities beschreibt. Dan Treacy geht es „okay“, man geht Zitronentee trinken (was mich an die Zitronenbiere der Lassie Singers erinnert, ebenfalls so eine schöne Alltagsbeobachtung). Am Abend gibt’s ein Konzert der TV Personalities und dann muss Dan auch schon wieder weiter, der Protagonist schaut wehmütig dem Flugzeug hinterher. Das Publikum ist pietätvoll genug, um keine Feuerzeuge zu schwingen, auch wenn der Song mit seinen banalen Begebenheiten besonders melancholisch stimmt. Hat man alles schon einmal erlebt, so einen verschlafenen, aber perfekten Tag mit einem Menschen, der dann wieder gehen muss.

Natürlich wollen Chuckamuck vor allem Mädchen zum Tanzen bringen. Das wird auch recht unverblümt im letzten Song des heutigen Abends, »Chuckamuck«, zum Ausdruck gebracht. Hier heißt es „Mädchen aus Hamburg/ Mädchen aus Verona/ Mädchen aus Barcelona/ Mädchen aus Malmö/ Mädchen aus Wien/ Wir sind Chuckamuck/ und wir kommen aus Berlin.“ Zwar sind heute Abend mehrheitlich Jungs da, unter denen, die sich bewegen, sind aber sicher die Hälfte Mädchen, der Plan von Chuckamuck geht also auf.



Eine Zugabe gibt es nicht, wie auch? Die Band hat gerademal ihr erstes Album von guten 35 Minuten Spieldauer (wie zu besten Zeiten des Rock ‚n‘ Roll) veröffentlich. Diese 35 Minuten, genau wie der Abend heute sind jedoch knackevoll gepackt mit Leidenschaft, Spaß und großartigen kleinen Melodien. Noch einmal Götz Adler: „Sicher nicht unbedingt schrecklich originelle Musik aber dafür ganz schön ungewöhnlich in dieser Zeit in Kombination eben mit der Haltung und den Texten und vielleicht deshalb so sympathisch und charmant.“ Word!

Nach dem Konzert legt Upstart noch aus seinem gut sortierten Elektro-Regal auf. Chuckamuck tauchen, nachdem sie ihr Equipment im Tourbus verstaut haben, im tanzenden Restpublikum auf. Ich rede kurz mit ihnen, bin aber vom überteuerten Rote-Sonne-Bier schon zu betrunken gemacht, um wirklich noch etwas heilwegs Vernünftiges herauszubringen. Vielleicht waren das aber auch gar nicht Chuckamuck, Hannes meint nämlich, die wären schon längst weiter ins Atomic.

Chuckamuck: Wild for Adventure
Staatsakt, VÖ: 18.03.2011











-> Chuckamuck
-> Interview mit Chuckamuck bei Dorfdisco

Montag, 4. April 2011

1, 2, 3, 4, 5, 6, 77! - The Shocks


Punkrock ist tot! Wer bis auf die Punks selbst wüsste das nicht. Aber, liebe Leser, wir reden hier nicht von staubigem, spaßfreien Punkrock a la Dritte Wahl, der sich im eigenen, ewig gleichen Morast dreht wie eine Nadel in der Auslaufrille eines Plattenspielers, den man vergessen hat, auszuschalten. Oder gar von der Zwieback-Ödnis, die die Intro mit Punkrock verwechselt, wenn sie mal wieder die Nachfolge der viel zu spät aufgelösten Muff Potter in irgendwelchen schlaffen, vermeintlich raubeinigen Befindlichkeits-Muckern feiert. Wir reden nicht von „Punkrock,“ der aus einer Anti-Haltung heraus entsteht, die man als Teenager irgendwann einmal aufgeschnappt hat, und an die man sich seither so gut gewöhnt hat, dass man den Stachel gar nicht mehr spürt. Wir reden von 1977, von Frische, Intensität, Wut und Hedonismus. Wir reden von the Shocks.

Dresden, Chemiefabrik, Herbst 2006. Keller-Atmosphäre, Bierchen trinken, kickern, Vorband, dann die Shocks. Bis zum letzten Song pogen die vielleicht 100 Leute. Eines von den Konzerten, bei denen man nur kurz zwischen den Liedern verschnauben kann, bevor man, sowieso schon völlig durchgeschwitzt, wieder in den Menschenklumpen springt. Total am Ende aber glücklich, mit einem verdrogten Lächeln im Gesicht. Wenn man nicht sowieso bei jedem Lied wild herum springen müsste, weil die Lieder der Shocks eben Lieder sind, zu denen man gar nicht anders kann, als wild herumzuspringen, dann müsste man das tun, weil man genau so alles geben will, wie die Band das tut. Ich hatte schon zu der Zeit nichts mehr mit Punkrock am Hut, aber diese Band war die späte Erfüllung all der uneingelösten Versprechen, mit denen man als Punk, ständig auf der Suche nach dem intensivsten Konzert und der verrücktesten Party, so lebte.

Zu viel Input um mich rum das macht mich schlapp und dumm ich brauch n Kick

Zu viel Input um mich rum das macht mich schlapp und krumm ich brauch n Kick
Tag für Tag die selbe Leier
Ich hänge in der Leine wo sind meine Eier

Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick
Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick
Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick
Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick
Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick
Ich brauch n Kick - Ich brauch n Kick - More Kicks
More Kicks - More Kicks - More Kicks
Aaah, more Kicks

Ich war peinlich spät durch meinen Bruder zu Punkrock gekommen. So spät, dass ich trotzdem weiter auch Pink Floyd hörte, und mir kein Punk-Outfit mehr zulegte. Trotzdem hatte ich mit Punkrock die allerbesten Jugend-Erfahrungen gemacht. Konzerte von drittklassigen Punkrock-Bands im Zwickauer Gasometer, bei denen wir uns das erste mal zaghaft und noch voller Respekt in den Pogo-Kreis wagten. Später abgeklärtes, selbstsicheres Hineinwerfen und Pogen auch in den härtesten, von boxenden Oi-Skin-Schränken durchsetzten Pogo-Mobs. Nichts mit Festhaken, Eingraben und Schützen, meist unter Inkaufnahme von Rippenschmerzen. Unvergessliche Konzerte von Terrorgruppe, Fucking Faces, UK Subs und Vibrators , im AJZ Talschock in Chemnitz, im Leipziger Conne Island, im Alten Schlachthof in Dresden, irgendwo in Schwarzenberg. Mit am schönsten immer die nach Hause Fahrt, wenn man die ganzen blauen Flecken überhaupt erst spürt und sich so angenehm kaputt fühlt. Die eigene Punkrock-Band inklusive Eierpappen-Proberaum, tausend verrückte Geschichten, sehr viel Bier, Diskussionen über Nazis, Bullen, Hippies, Pseudo-Punks, Anfeindungen von Nazis. Das ganze Identitätsfindungs-Ding. Die Musik immer dabei.

Und irgendwann war das dann alles wieder vorbei. Überall nur noch Kinderpogo, nichts, was man nicht schonmal irgendwo härter, krasser, intensiver erlebt hätte. Dazu durchschaute man die Bands - und viele andere Punks - so langsam als etwas stehen geblieben in der Zeit. Ich schaute meistens nur noch zu und warf mich höchstens mal für ein paar Lieder ins Getümmel, das fühlte sich dann immer ziemlich nostalgisch an. Und schließlich kaum noch Punkrock. Bis wieder mein Bruder eines Tages mit den Shocks ankam. Auf einmal alles wieder da.

Sie ist ne kleine Vorstadtschlunze und hat keinen Bock
Auf Schule, Arbeit und Familie und Mutters Unterrock
Sie ist gelangweilt und frustriert und voller Energie
Sie hat sich jetzte jäh verpisst aus der trauten Lethargie

Sie ist dreizehn und sie hat es -
Sie ist dreizehn und sie hat es -
Sie ist dreizehn und sie hat es -
Sie ist dreizehn und sie hat es allemal weg

Die Shocks erfinden das Rad natürlich keineswegs neu. Und man kann ihnen ohne Probleme die selben festgefahrenen Denkmuster und das selbe naive Politik-Verständnis vorwerfen, das man 100% des restlichen Punkrock, sobald es sich Punkrock nennt, vorwerfen muss. Und natürlich leben die drei Jungs SMail (Gesang, Gitarre), Alex (Schlagzeug) und Don Lotzo (Bass) ihr Lederjacken-Punkrock-Dasein. Es ist also alles ziemlich authentisch hier. Ihre Musik ist kein arty Spiel mit Punkrock-Referenzen, kein kreatives Überführen von Punkrock in andere Stil- und Musikrichtungen, sondern ernst und ehrlich gemeinte Hausmannskost. Nur dass der Diskurs eben schon zwanzig Jahre weiter ist; Punk eigentlich nur noch das sein kann, was nicht nach Punkrock klingt.

Doch das alles wischen die Shocks mit ihrer Frische und Scheißegal-Attitüde vom Tisch. Die Shocks spielen zum Teil schneller, als die allerschnellste „Punkrock“-Band, die doch nur Rolling-Stones-Riffs in schnell spielt. Die Leichtigkeit, mit der das geschieht und mit der Bass, Schlagzeug und Gitarre in eins greifen, lässt das aber nie prahlerisch, protzig, plump oder muffig wirken. Auch, weil alles so einfach klingt. Die Surf-Gitarre in vielen Songs verstärkt diese Leichtigkeit noch einmal. Geradezu vorbildlich Tarentino-tauglich ihre Surf-Instrumentals. The Shocks spielen einfachen, schnellen Seventies-Punkrock ohne Umwege. „Nasty Nasty“ von 999, wenn man so will, aber auf eine Weise, als wäre das gestern zum ersten Mal gespielt worden. Und genau so unaufdringlich und unmittelbar gehen die fantastisch einfachen Melodien in die Ohren.

Du stehst morgens auf aber willst gar nicht
Parfumgestank schlägt dir in der U-Bahn ins Gesicht
Dieselbe scheiße hast du jeden Tag

Nicht mehr lange und du kackst ab


Und du musst schuften gehn - Ahahah

Du musst deinen Mann stehn

Und du musst Schuften gehn

Du hast zwei Kinder, ne Frau
und ein Haus
Und wartest auf d
ie Sechzig, denn da machst du einen drauf, aha

Die Shocks singen über Punkrock-Themen. Kein Bock auf Arbeit, machen, was man will, die Anonymität der Moderne, die Kälte der großen Stadt, der Hass auf die Angepassten. Keineswegs besonders clevere Punkrock-Texte, aber einfach und auf den Punkt. Was schwieriger ist, als man denkt. Zum Teil sind es bis auf die Essenz abgekochte Punkrock-Texte, die man so höchstens in der kurzen Glanzzeit des deutschen Punkrock von 1978-1980 schon einmal hörte. Die nie mit großen Metaphern oder Bildern um sich werfen, aber auch nie zu direkt oder doof sind. Sehr englische Texte, früher Rock ‚n‘ Roll, aber eben auf Deutsch. Vorgetragen mit einer Stimme, die manchmal wie ein Quaken wirkt, die zwar vehement ist, der das aber auch alles ziemlich egal zu sein scheint.

Du hast mich angerufen

Denn zwischen uns war alles klar
Aber nur wenige Minuten
Und der alte Scheiß war wieder da

Völlig krank was hier abgeht
Hab‘s bis heute nicht kapiert
Hau doch ab oder bleib hier
Ich weiß nicht mehr Kein Plan mehr da

Es raucht mich auf - Schizophrenia
Wir leben in - Schizophrenia
Es raucht mich auf - Schizophrenia

Wir leben in – Schizophrenia


Einziger Makel: The Shocks haben sich vor zwei Jahren aufgelöst. Es bleiben die Schallplatten, und die Hoffnung auf eine baldige Reunion. Denn: derart begabte Punkrocker hat das Land lange, lange nicht gesehen.

»Parasit«, Schokoladen, Berlin, 2008

Absolute Empfehlung: Alles!
Too Many Kicks in 96 (1996)
More Cuts for You in Zero Two (2002)
Bored to Be in Zero Three (2003)
The 7-Inches (2004)
Banned from the USA (2004)
Brace, Brace... (2007)

-> http://www.myspace.com/theshocksde

Sonntag, 23. Januar 2011

Holt mich hier raus (Ich bin hier vor der Wand). Der zweite Erfindungsabend von Schorsch Kamerun, Kammerspiele, 21.01.2011

Schorsch Kamerun (of Goldene-Zitronen-Sänger-goes-Theaterregissuer-Fame, zurzeit sowohl bei den Münchener Kammerspielen als beim Hamburger Thalia-Theater) ruft zum zweiten Erfindungsabend in die Spielhalle der Kammerspiele. Einigermaßen gespannt – weil uninformiert – sehen wir einem Abend entgegen, der mit Namen wie Dietmar Dath, Pollyester, Alexander Kluge, Mouse on Mars und eben Schorsch Kamerun glänzt.

Erste Überraschung ist schon mal, wie viele Leute zu so etwas kommen, der Laden ist voll. Andererseits: vielleicht hat der Name Schorsch Kamerun (oder auch Pollyester, oder Mouse on Mars?) wirklich schon so viel Strahlkraft, dass sich die Leute – wie wir – allein deswegen massenhaft einfinden? Wir scheuen keine Konformität und machen es uns mit den anderen Twentysomethings/ Don’t-call-them-Hipsters vor der Bühne auf Kissen „bequem,“ man will ja ganz vorne dabei sein. Die meisten älteren Gäste nehmen auf den Bühnenrängen hinter uns Platz. Während man sich das erste Bier holt, laufen schon die butterweichen funky Tracks, für die ich Pollyester so liebe. Elektrostücke, bei denen ein analoger elektronischer Bass gespielt wird, mit genau der richtigen Menge Cheese. Hmm.

Dann kommt Schorsch Kamerun auf die Bühne und erklärt, worum es hier eigentlich gehen soll und wird, nämlich die aktuellen Vorbereitungen der nächsten Projekte der Kammerspiele vorzustellen und ein wenig zu erklären, was dabei die Hintergedanken so denken. Diesmal mit mehr Betonung auf dem E wie „Ernst,“ statt U wie „Unterhaltung;“ die nämlich sei ein wenig zu viel gewesen das letzte Mal, was einheitlich scharfe Kritik geerntet hat. Auf dem Programm heute standen also keine Penis-Operation-Geschichten, sondern Franz Schuberts »Winterreise«, sowie Dietmar Daths Utopie/ Dystopie »Die Abschaffung der Arten«. Untermalt wie schon beim letzten Mal von sogenannten Minutenfilmen von Alexander Kluge; zwischen den Beiträgen spielt Schorsch Kameruns »Erfindungsband« thematisch verwandte Sachen.

Zunächst also erst einmal Christoph Homberg, ein ganz großer Oratorien-, Konzert- und Opern-Sänger, der zurzeit an den Kammerspielen für die musikalische Konzeption von Elfride Jelineks Adaption von Schuberts »Winterreise« verantwortlich ist. Er singt uns, nur begleitet von einem Klavier, drei Stücke von Schubert vor. Danach will er uns zeigen, dass ein(e) jede(r) Opern-Style singen kann, und macht mit den Zuschauern Gesangsübungen. Die machen zu meiner Überraschung sogar sofort richtig mit, und das Ganze klingt auch gar nicht so schlecht, wie man es von so einer ungeübten Truppe erwartet; ich selber versage allerdings kläglich.

Als nächstes Dietmar Dath, der von Katarina Agathos interviewt wird. Anlass ist die 12teilige, und -stündige (!) Vertonung seines 550-Seiten-Buchs »Die Abschaffung der Arten«, bei der Katarina Agathos für die Dramaturgie verantwortlich zeigte. Ich bin einigermaßen fasziniert von dieser Gigantomanie und auch etwas (positiv) überrascht, dass der BR so ein Projekt tatsächlich durchzieht (zumal Dath bekennender Marxist und nicht unumstritten ist). Das Interview gerät allerdings einigermaßen anstrengend. Dath macht zwar kluge Aussagen zum Verhältnis von Kultur/ Künstlichkeit und Natur/ Authentizität, zu Kapitalismus, Demokratie, Utopien und seinem Autoren-Ich. Agathos geht aber kaum weiter auf die Antworten ein, sodass es bei einem drögen Frage-Antwort-Spiel bleibt, statt ein angenehmes Gespräch zu werden.

Wem das zu blöd wird, dem bleiben noch die Minutenfilme von Alexander Kluge, die – Abschaffung der Arten! – ganz ohne Lebewesen auskommen und verschiedene Naturschauspiele oder auch Schneeraupen nachts im Zeitraffer zeigen. Ganz nette Ideen, ganz nett anzusehen. Auch das Jugendtheater wird auf die Leinwand projiziert, beim Herumklettern unter den Zuschauerrängen. So etwas kennt man nun allerdings auch schon aus jedem zweiten Theaterstück.

Dazwischen immer wieder kurze Intermezzi der Erfindungsband (u.a. mit Pollyester am Bass), die ebenfalls die Winterreise interpretieren, später am Abend auch noch Goethe und Dietmar Dath. Meines Erachtens das beste Puzzleteil des heutigen Abends: punkig gesungene Beatmusik, die durch Schorsch Kameruns Gesang und die Hammond-Orgel zuweilen an die Goldenen Zitronen erinnert. Auch das einzige, was meiner Wahrnehmung nach mit »Erfindung« zu tun hatte.

Weswegen auch dieser Erfindungsabend seinen Ansprüchen nicht gerecht wurde. Bis auf die Songs der »Erfindungsband« wurde nichts »erfunden«, die einzige Interaktion mit dem Publikum – und da hatte ich eigentlich den Kern des Projekts vermutet – war die Gesangsübung von Homberg. Und lediglich Dietmar Dath hatte wirklich etwas zum Thema des Abends, Evolution und Revolution, zu sagen. Statt (spontaner?) Blödelei wie beim letzten Mal, gab es diesmal gar keine Performance. Fragt sich, was überhaupt groß »erfunden« werden kann an so einem Abend. Meines Erachtens kann das – in Abgrenzung zu den ja auch »erfundenen« Ideen, Performances und Kostümen von Theaterstücken – nur in so etwas wie Spontanität oder Publikumsinteraktion liegen. Schorsch Kameruns Strategie beim ersten Abend schien gewesen zu sein, dem „Ernst“ einer Auseinandersetzung mit Theaterthemen einfach mehr „Unterhaltung“ beizumischen. Heute blieb dann kaum mehr etwas von Beidem.

Als Entschädigung für einen lauen Abend bekam man immerhin noch einen Auftritt von Mouse on Mars, die die Musik zu Daths Höspiel gemacht haben. Aber will man das dann nicht doch lieber im Club? Aufhebung der Grenzen von Hoch- und Populärkultur ist ja schön und gut; wenn dafür aber die jeweils überzeugendsten Argumente dieses Gegensatzpaares geopfert werden, läuft es in die falsche Richtung. Vielleicht erfindet Schorsch Kamerun beim dritten Anlauf eine überzeugendere Lösung dieses Problems. Vielleicht gehe ich einfach mal wieder in ein Theaterstück, und schaue, was dort so erfunden wird.

-> http://www.muenchner-kammerspiele.de/programm/holt-mich-hier-raus-ich-bin-hier-vor-der-wand/

Mittwoch, 19. Januar 2011

Albumkritik - »Schall und Wahn« von Tocotronic - bemüht und uninspiriert

Albumcover zu "Schall und Wahn"
Die Idee ist gut, aber.. Tocotronics neue Platte enttäuscht trotz Blumencover. 
Tocotronic – meine absolute Lieblingsband – haben sich verrannt. Ihre neue Platte »Schall und Wahn« gefällt mir nicht. Das heißt auch, sie gefällt mir noch weniger als »Kapitulation«, die Platte davor, die mir noch weniger als »Pure Vernunft darf niemals siegen«, die Platte davor, gefallen hat. Und bei der fing das auch schon an, mit dem sich einschleichenden unguten Gefühl. Und sowas muss ja Gründe haben. Es stellt sich die Frage: wer irrt? Tocotronic oder ich? Zumal Hannes die neue Platte ja für die beste der im Nachhinein ausgerufenen „Berlin-Trilogie“ hält. Und es mir fernliegt, in den lamentierenden Singsang eines „früher waren die besser“ einzustimmen, der ja oftmals eh nur ausdrückt, dass man sich die verlorene Zeit seiner Jugend zurückwünscht.

Im Gegenteil: einiges ist ja besser und schöner geworden. Tocotronic hatten sich spätestens mit »KOOK« von den immer wiederkehrenden Jungsthemen abgewandt. Auch ihre sympathische Larmoyanz hatten sie mit diesem Album über Bord geworfen, kurz bevor sie sich totlaufen und zur öden Quengelei von verwöhnten Muttersöhnchen aus bildungsbürgerlichem Hause verkommen konnte. Die schlichte Mitteilung von Sachen, die man hasst, die einen stören oder (seltener) die man mag, hatte sich erledigt. Statt dessen traten verschwurbelte, beziehungsreiche Texte, aufwendige Instrumentierungen und ausgefuchste Arrangements auf den Plan. Es gibt kaum eine Lied-Passage, die ich mehr liebe als das „Manchmal, wenn wir liegen, in einem Zustand des Erwachens zwischen Nacht und Tag…“ von »Schatten werfen keine Schatten«. Queerness, Camp und feminin codierte Texte wie Gesänge fanden Einzug in den „tocotronischen Kosmos,“ auch dieses Wortpaar so eine campy verschwenderische Selbsterhöhung. Die Umarmung von Science Fiction, Dirks Buffy-Shirt, der Gruß an die Zwitterwesen auf den aktuellen Konzerten, das „Es grüßen euch wie immer auf das Allerherzlichste“ im Newsletter: alles ganz großartig.

Die Agenda könnte also kaum besser aussehen. Mit stereotypen Geschlechterzuschreibungen wird gespielt, jeglicher Form von (Selbst-)Disziplinierung eine Absage erteilt, emsiges Netzwerkeln verspottet, demütigender Selbstausbeutung eine heilsame Selbstverschwendung gegenübergestellt, dem sich-sicher-Sein der Zweifel. Das nicht-Funktionieren ist (nach wie vor) das Anliegen von Tocotronic.

Wenn da die Musik nicht wäre. Die wird nämlich, gewissermaßen im Gegensatz zu den guten Absichten Tocotronics, immer perfekter, schwerer, formalisierter und rockistischer. Geradezu abschließend perfekt war auch »Tocotronic«, allerdings besaß die Musik eine Leichtigkeit und Klarheit, die strahlte, und traumverwunschene Texte, die aus Paralleluniversen zu kommen schienen. Beides ging den Liedern von »Pure Vernunft…« zuweilen ab; beides ist bei »Schall und Wahn« nur noch die Ausnahme. Durch und durch formalisiert war schon »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, nur hat man das nicht gehört. Die neuen Stücke wirken zuweilen penetrant berechnet: Ah ja, das wilde Punk-Stück. Verstehe, das zarte Liebeslied. Wo bleibt das Durchtriebene? Wo der Wahn des Albumtitels?

Und in die Mucker-Falle sind sie getappt; und das, wo doch Muckertum von Anfang an auf der No-Go-Liste Tocotronics stand. Lieder wie »Ein leiser Hauch von Terror«, »Macht es nicht selbst«, oder »Stürmt das Schloss« sind vielleicht nicht durchweg rockistisch – der verkünstelte, manchmal feminin codierte Gesang bewahrt noch vor Schlimmerem – kommen dem aus guten Gründen verpönten Muckertum aber verdammt nahe, zu nahe für meinen Geschmack. Der Raumklang der Mikrofonierung des meiner Meinung nach fatalen Moses Schneider (Produzent der letzten drei Alben, womit ich nicht ihm die Schuld in die Schuhe schieben möchte, denn Tocotronic, soviel darf man unterstellen, wissen, was sie tun) soll angeblich verhindern, dass der Sound zu fett daher kommt. Hören kann ich das allerdings nicht, und hinsetzen und mich nun extra darauf konzentrieren wird mir erst recht nicht einfallen. Mir wird ja schon schlecht, wenn Dirk von der seiner Meinung nach überragenden Mikrofonierung des Moses Schneider schwärmt. Oder von den angeblich avantgardistischen (Neue Musik!) Streicherarrangements von Thomas Meadowcroft, die zwar durchaus interessanter als gängige nullachtfuffzehn Pop-Streichereien sind, dem Muckertum aber nicht entgegenwirken. Das ganze reduziert sich auf die plakative Frage: Wozu live einspielen, wenn das Ergebnis trotzdem nach Standard-Rockaufnahme klingt? Vielleicht sollte ich doch genauer hinhören? Aber weswegen wurde denn einmal das ganze Projekt »Rock ‚n‘ Roll« gestartet?

Auch die Texte kommen auf »Schall und Wahn« plumper denn je daher. Allen voran »Stürmt das Schloss«, dass musikalisch wie textlich einfallsloseste Stück der Platte. Man wollte wohl einen sloganhaften, einfachen Punk-Song à la »Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben«. Der Refrain („Anormale! Stürmt das Schloss! Ausgeflippte! Stürmt das Schloss! Abgeschaffte! Stürmt das Schloss! SDS! SDS! SDS!“) bewegt sich allerdings auf Tote-Hosen Niveau; und Zeilen wie „Durchquert den endlosen Sand/ Teilt das durstige Meer/ Jagt der Narrheit hinterher/ Durchstreift das karstige Land“ sind allenfalls dürftige Parodien ähnlich angelegter, allerdings um weiten einfallsreicherer und verworrenerer früherer Tocotronic-Zeilen. Da hilft auch kein Verweis auf den sozialistischen deutschen Studentenbund oder »DSDS«, plump bleibt plump. Wie hier fordern die Texte auch in »Macht es nicht selbst« und »Bitte osziliieren Sie« zu etwas auf, und das ohne Umschweife oder Unklarheiten. Ob man das gut findet, sei jedem selbst überlassen. »Keine Meisterwerke mehr« ist der programmatische Song nach dem „Meisterwerk“ »Kapitulation«, bleibt textlich aber ebenso eindeutig wie langweilig. Das Schwelgerische und Selbstverschwenderische vieler früherer Tocotronic-Zeilen blitzt hier und da noch manchmal auf (etwa in der Zeile „Eure Liebe tötet mich/ Und doch bin ich unersättlich/ Weil ihr zur gleichen Zeit/ Die Medizin verschreibt/ Unersetzli-ich“ aus »Eure Liebe tötet mich«); die Texte sind nach wie vor reich und ungewöhnlich bebildert und mit den gewohnt mystisch-erhabenen Worten durchzogen. Ihnen fehlt allerdings fast durchweg das Vage und der Beziehungsreichtum – wegen mir auch das Rhizomatische – früherer Zeilen bzw. Texte. Stattdessen bekommt man einfach zu lesende Metaphern vorgesetzt, denen man auf seltsame Weise anmerkt, dass ihnen Gewalt angetan wurde. Vielleicht wurde beim Schreiben zu viel gewollt und zu wenig sich selbst überlassen?

Der einzig wirklich überzeugende Song – Text wie Musik – ist meines Erachtens »Im Zweifel für den Zweifel«, eine wunderschönen Kaskade an Zweifeleien, in der es heißt: „Im Zweifel für den Zweifel/ Das Zaudern und den Zorn/ Im Zweifel fürs Zerreißen/ der eigenen Uniform// Im Zweifel für Verzärtelung/ Und für meinen Knacks/ Für die äußerste Zerbrechlichkeit/ Für einen Willen wie aus Wachs// Im Zweifel für die Zwitterwesen/ Aus weit entfernten Sphären/ Im Zweifel fürs Erzittern/ Beim Anblick der Chimären…“ Das Ganze gesungen zu einer einfachen Akustik-Gitarre und einer wehleidigen Geige. Traumhaft schön.

"Im Zweifel für den Zweifel" auf tape.tv
Vielleicht das beste Lied des Albums: »Im Zweifel für den Zweifel«
Nicht, dass das falsch verstanden wird: ich möchte keinesfalls, dass Tocotronic irgendwie „authentischer“ rüberkommen. Gerade das Campige und das Übertriebene ist ja das derzeit spannendste an Tocotronic. Das Maß an Perfektion, Berechenbarkeit und Muckertum, das man auf der aktuellen Platte vorfindet, ist allerdings ein wenig zu viel des Guten und steht den Absichten der Band, und manchmal den Texten entgegen. Dirk sagte vor kurzem in einem Interview: „Kunst braucht etwas Zweifelndes. Wenn die zu selbstbewusst ist, dann ist sie meistens fürchterlich. Ich finde es immer interessant, wenn Kunst ihre eigene Unsicherheit ausstellt.“ Genau deswegen heißt und ist das beste Lied auf »Schall und Wahn« auch »Im Zweifel für den Zweifel«. Genau das fehlt den meisten anderen Liedern allerdings; die Musik von Tocotronic ist sich ihrer Sache zu sicher. Damit einher geht ein Verlust von Leichtigkeit; Tocotronic rücken in die Nähe der Art von angestrengt-formelhafter wie langweiliger Musik (bzw. Kunst im Allgemeinen), die man im Deutschen so oft vorfindet, wenn es politisch sein soll. Das ist dann vielleicht noch relevant, kann aber nicht mehr begeistern. Beides zu verbinden war einmal die große Stärke von Tocotronic.

Nach dem Abschluss der „Trilogie“ der im Sound dann doch recht ähnlichen letzten drei Alben, wäre ein erneuter Hakenschlag von Tocotronic ja fast schon zu erwarten. Es würde Ihnen in keinem Fall schlecht stehen. Die Zeit bis dahin werde ich mich mit früheren Platten und anderen Bands vertrödeln; das aktuelle Album ist schlichtweg zu bemüht und uninspiriert.

Tocotronic: Schall und Wahn
Vertigo, VÖ 22.01.2010

-> http://www.tocotronic.de/