Mittwoch, 14. September 2011

Mit Bourdieu bei HGich.T

HGich.T in der Hamburger Morgenpost, 2009

Schock, Ekel, aggressives Nichtverstehen. Von „der schlechtesten Musik, die ich je gehört habe“ (laut.de), ist die Rede, von „mit Abstand eine[m] der beschissensten Alben des Jahrzehnts“ (intro.de), von „Voll-Nonsens,“ einem „mittelschwere[n] ödipale[n] Komplex und eine[r] nie überwundene[n] anale[n] Phase“ (Spex). Reflexe, die man (abseits von längst unbedeutend gewordenen Parallelwelten, die von verwirrten Leuten wie Eva Hermann bewohnt werden) längst für tot gehalten hatte, feiern bei der Begegnung mit HGich.T auf einmal fröhlich Einstand, als hätte es all die vergangenen Aufreger über Rock ‚n‘ Roll, Punkrock, Hip Hop, Techno, you name it… nie gegeben. Dass es so etwas noch geben kann, hatte man eigentlich schon gar nicht mehr für möglich gehalten.

„An der Tafel steht 1 + 1, was kommt raus? Sex Sex Sex im Scheißhaus!“

HGich.T, ein Band-/Performance-Kollektiv von zehn bis 15 Leuten aus der Umgebung Hamburgs, machen Boller-Mucke mit stumpfen Beats und debil anmutendem Sprechgesang in derber Hamburger Mundart, eine Mischung aus Schranz und Psy-Trance, soweit ich das beurteilen kann bzw. anderswo gelesen habe. Dabei wird, wenn man so will, der Loop großgeschrieben. Die Texte greifen Unterschichten-Klischees auf, wie sie das distinguierte Bürgertum, und damit durchaus auch die „kreative Bohéme“ von den Hartz-IV-Empfängern, den Migrationshintergrundfamilien und den überforderten Alleinerziehenden der „Neuen Unterschicht“ hat, und wie sie täglich auf RTL und Pro 7 in gescripteten „Reality“-Shows vorgeführt werden. Begonnen hat die Geschichte von HGich.T mit so-bekloppt-dass-es-schon-wieder-gut-ist-Videos auf Youtube, die „Tutenchamun“ oder „Hauptschule“ hießen, und die man sich auf sterbenden Partys gegenseitig als den nun aber endgültig krassesten Scheiß vorgespielt hat. Die Videos wurden mehr, dann folgte eine erste EP und im letzten Jahr das Album „Mein Hobby: Arschloch“.

„Den Song hab ich geschrieben!“


Und während das Ganze auf Platte doch etwas von seinem Youtube-Video-Spaßfaktor verliert (und bezeichnenderweise noch weniger Spaß macht, wenn man es sich allein anhört), wird es auf der Bühne zum absolut durchgeknallten Dada-Spektakel. Anna-Laura, Sänger und Anführer der Gruppe, gibt den infantilen Sachbearbeiter im Alkohol- und/ oder Drogenrausch, daneben tanzt dauergrinsend der Typ mit der Warnweste aus den Youtube-Videos, schwarz angemalt wie ein Minstrel-Sänger und in Erwachsenenwindel. Die Bühne ist passend zum nicht-Ernst-oder-doch-Ernst-gemeinten Goa-Flirt des Kollektivs mit weisen Fäden (die vorher in penibler Friemelarbeit hundertfach von Bühnengestänge zu Bühnengestänge gesponnen wurden) geschmückt und in Neon-Farben ausgeleuchtet. Der DJ scheint tatsächlich so ne Goa-Type zu sein, or is he? Und was für eine Rolle spielt das bei einer Band wie HGich.T eigentlich noch? Dazu tanzt ein Mädchen im Loveparade- bzw. Goa-Look. Lässt man sich darauf ein und wirft seine anerzogenen Hemmungen über Bord, macht das einen irren Spaß. Dass, wie bei anderen Auftritten der Band, Pimmel-Bilder gemalt werden, muss mir beim Konzert in der Roten Sonne entgangen sein, ein Dixi-Klo, wie bei anderen Shows war aber definitiv nicht dabei, aber auch das hätte das Schock-Potential von HGich.T nicht wirklich steigern können. Anna-Laura ist während des Geballers die meiste Zeit vor der Bühne und rempelt sich durchs Publikum, wobei er nie seinen Komasäufer-Blick verliert, also nie aus seiner Rolle in eine andere Rolle fällt. Jeden Song kündigt er stolz-infantil mit „den Song hab ich geschrieben“ an.

„Tut ja nicht so, als ob ihr was verstanden hättet!“

Trotz all der Schockerei (Schock, gähn…) sind es allerdings nicht so sehr, oder nur oberflächlich, die Schock-Elemente, die der Grund für die Entrüstung über HGich.T sind. Denn dafür ist selbst die HGich.T-Schock-Palette heutzutage zu harmlos. Viel eher bildet die Abwesenheit jeglichen Sinns den eigentlichen Kern des aggressiven Nicht-Verstehens, das dem Kollektiv entgegengebracht wird. Nicht nur lässt sich aus der Musik (via: den Texten) kein Sinn herauslesen, noch nicht einmal mittels Unterstellung von Ironie, Sarkasmus, Bad-Taste-Umdefinierung oder was sich der postmoderne Diskurs eben noch so ausgedacht hat, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Auch auf der Bühne geben HGich.T nichts preis, stiften im Gegenteil nur noch mehr Verwirrung, und selbst in Interviews bleiben die Mitglieder der Performance-Gruppe in ihren Rollen und weigern sich vehement, überhaupt auf gestellte Fragen einzugehen. Erklärungsversuche werden mit Dadaismus, Null-Aussagen, Fehlinformationen, und Parodien auf Interview-Antworten ins Leere laufen gelassen. Dazwischen gibt es zwar trotz alledem Hinweise auf Absichten und Überzeugungen der Bandmitglieder, von denen einige im „richtigen“ (besser: im „falschen“?) Leben immerhin“ „respektable“ Professoren oder Kunst-Studenten sind, aber das geht angesichts des ganzen übrigen Wirrwarrs dann doch meistens unter.

Dass das vor allem Journalisten hart trifft, ist nur logisch. Sie sind es schließlich, die den hungrigen Lesern die Welt erklären sollen, ständig Sinn aus etwas „herauslesen“ oder, näher dran, „herstellen“ sollen. Für etwas, das keinen Sinn „ergibt“, haben die meisten kein Rezept. Das einzige, was dann noch bleibt, ist die Sache für verwerflich-obszön oder harmlos-kurios zu erklären. Dass dieses ganze Sinn-Konstruieren ein zutiefst bürgerliches Phänomen ist – der herrschenden Klasse also hilft, oben zu bleiben – wird hier jetzt einfach mal nur am Rand erwähnt.

"Das System ist das Problem, ja? Ja! Das System ist im System, ja? Ja! Ich bin das System, ja? Ja!"

Sänger Anna-Laura

Nun ist peinliches Vermeiden von Sinnproduktion natürlich auch schon wieder, richtig: Sinn. Denn wo sich wiederholte Unsinnigkeit zu vorhersagbarem Verhalten verdichtet, ist bewusstes Handeln nicht mehr weit, und ehe man sich versieht, schwirren auch schon Zwecke umher. Der Sinn, die Agenda von HGich.T ist also das unablässige Herstellen von Sinnlosigkeit. (Und da läuft sie schon wieder, die Sinnkonstruktions-Maschine.) Gleichzeitig sind HGich.T die ganz großen Distinktions-Praktiker.

„Die feinen Unterschiede“ (frz. „La Distinction“) hieß eine 1979 von Pierre Bourdieu veröffentlichte Studie, die die kulturellen Abgrenzungsmechanismen gesellschaftlicher Schichten am Beispiel der französischen Gesellschaft beschrieb. Die total vereinfachte Grundthese des Buches könnte lauten, dass sich soziale Schichten nicht nur anhand wirtschaftlicher, sondern auch anhand kultureller Kriterien beschreiben lassen. Nicht individueller Geschmack, sondern schichtenspezifische Geschmacksrichtungen sind demnach ausschlaggebend für den Kulturkonsum des Einzelnen. Mittels dieser Geschmacksrichtungen grenzt sich eine gesellschaftliche Schicht von der anderen ab, soziale Unterschiede werden festgeschrieben: Distinktion. Und hier kommen HGich.T ins Spiel, denn sie unterlaufen diese Geschmacksgrenzen und entblößen so das ganze schale Distinktions-Gehabe.

Indem HGich.T sich – und das ist wichtig – trotz besseren Wissens einen feuchten Kehricht um Geschmacksgrenzen scheren, führen sie dem distinguierten Bürgertum das distinguierte Bürgertum vor. Die „stumpfe“ Schranz/Trance-Mucke und die „bekloppten“ Texte entblößen meine Dial-Alben und meine Animal-Collective-Platten als Ergebnis jahrelanger, zeitintensiver und sozialisationsbedingter Distinktionsarbeit. Der „billige“ Goa-Chic und die knallbunte „Unterschichten“-Ästhetik stellen meine sorgfältig zusammengetrödelte, gedecktfarbene Retro-Einrichtung und meinen American-Apparel-plus-Flohmarkt-Look in Frage. Das „asoziale“ Verhalten des Kollektivs entlarvt mein „gesittetes“ Benehmen in seiner ganzen Angepasstheit. Und deswegen ist es übrigens auch nicht nur erfreulich, sondern nur logisch, dass bei einem HGich.T-Auftritt die verschiedensten Charaktere auftauchen. Fühle ich mich bei vielen meiner übrigen Konzertbesuche oft wie ein Klon in einer einzigen Masse aus so „geschmackvoll“ gekleideten wie „gut“ erzogenen Hipster-Klonen, tanzen bei HGich.T ausgelassene jugendliche Komasäufer in Warnweste neben verschüchterten Hipstern mit Jutebeutel.

„Mama, ich muss A-A!“

Beim Dreh zu "Tutenchamun"

HGich.T sind ein Aufruf, selbstauferlegte bzw. gruppendynamische bzw. schichtenspezifische Geschmacks- und Benimm-Kodizes zu hinterfragen und über Bord zu werfen, weswegen ein Konzert von HGich.T auch so befreiend und revealing sein kann. Es kann das allerdings nur sein, weil HGich.T einen zwar sinnfrei erscheinenden, aber im Kern dennoch intelligenten Humor besitzen, der sie nicht zuletzt von Sachen wie Frauenarzt, denen sie rein musikalisch gar nicht so unähnlich sind, unterscheidet. (Stattdessen teilen sie diese Art Humor mit Leuten wie Helge Schneider und dem Filmemacher Wenzel Storch). Damit sind HGich.T auch eine unmittelbare Kritik an einem während der Nuller Jahre sich in immer feineren Verästelungen ausdifferenzierenden Indie-Mainstream, dessen Ziel es zu sein scheint, immer geschmackssicherer und feinfühliger zu werden.

Die Dial-Alben von der Festplatte zu löschen und die Animal-Collective-Platten bei Discogs zu verhökern dürfte keine Lösung sein. Sich möglichst nichts drauf einbilden schon eher. Und sich vielleicht auch mal fragen, was genau immer kenntnisreicher und handwerklich immer perfekter umgesetzte Aktualisierungen alter Sounds, wie sie im „Indie“-Segment die letzten Jahre Trend sind, eigentlich bringen. Denn wenn die Indie-Maschine tatsächlich immer einfach so weiter läuft, könnte es schon bald ziemlich langweilig werden im Mainstream-der-Minderheiten-Land. Sachen wie HGich.T lassen allerdings hoffen, dass es dazu doch nicht kommen wird.

HGich.T: Mein Hobby: Arschloch
Tapete, 16.07.2010











-> Die wilde HGich.T Homepage (passt auch ins Programm, passt das doch so gar nicht zur bürgerlichen wie hippen Aufgeräumtheit - von entsprechenden Web-Auftritten oder Zeitschriften, zum Beispiel)
-> Das art-Magazin sieht HGich.T die Zivilisation aufkündigen, eine veritable Lesart