Freitag, 18. Mai 2012

Blog geschlossen

...schon seit fast auf den Tag genau vier Monaten nichts Neues mehr hier: dieser Blog hat sein Ende gefunden.

Man findet meine Schreibe aber trotzdem noch, und wer weiß, vielleicht ist dieses Ende auch ein Anfang. Die Schreibe von Hardy Funk auf skug.at, auf beatpunk.org, auf hhv.de.mag, auf zeitjung.de und demnächst auch bei laut.de.

Dieser Blog hätte natürlich weiterhin seine Berechtigung, selten kann man Themen, Umfang und eigene Schreibe auf anderen Plattformen derart frei selbst bestimmen. Im Moment fehlt mir dazu aber die Zeit. Aber the future is uncertain, as always.

Vielleicht noch ein Lied von La Stampa, ganz ohne Video, zum Abschied:

La Stampa - Es geht weiter

Sonntag, 15. Januar 2012

Lass uns über die Hamburger Schule reden!

Die Braut haut ins Auge sangen unter anderem vom »langweiligsten Jungen der Welt« und vom »Mann
mit Hang zur Depression«

»Informationen finden sie wichtig, Unterdrückung prangern sie an, Kapitalismus finden sie scheiße und dass Dialog nie funktionieren kann«, sangen die Lassie Singers 1992 in »Männliche Mitmenschen XY ungelöst« auf ihrem Album »Sei á Gogo« und ein paar Zeilen weiter: »Es ist ja nett von euch, dass ihr euch in uns rein versetzen wollt, doch das wird nichts, lasst das lieber sein, wir lieben euch, wir wollen euch, wir nehmen euch, so wie ihr seid!« Auf unnachahmlich charmante Weise haben die Lassie Singers schon damals die Kompliziertheiten von Männern des Typs »Hamburger Schule« besungen, die auch in »Lass uns von der Hamburger Schule reden« immer wieder thematisiert werden: Diskussionswut, Gerede von Gleichberechtigung, unnötige Ver-komplizierungen im Verhältnis zu Frauen und allgemein das Scheitern darin, ein irgendwie besserer Mann sein zu wollen. Das Buch will unter anderem das Geschlechterverhältnis in der Wahrnehmung der Hamburger Schule geraderücken, will die Aufmerksamkeit einmal auf die Frauen lenken, die auf, aber gerade auch hinter der Bühne die Hamburger Schule entschieden mitprägten. Das Hauptanliegen aber ist ein anderes: dank der Erweiterung des Blickfeldes auf, neben Musik, Grafikdesign, Journalismus, Promotion und Labelarbeit soll ein möglichst vielseitiges Porträt der unter dem Begriff »Hamburger Schule« zusammengefassten Musik-Szene der 1990er Jahre entstehen... weiterlesen auf www.beatpunk.org

»Männliche Mitmenschen XY ungelöst« von den Lassie Singers

Jochen Bonz, Juliane Rytz, Johannes Springer (Hg.): Lass uns von der Hamburger Schule reden. Eine Kulturgeschichte aus der Sicht beteiligter Frauen. Ventil Verlag, 28.10.2011.

Sonntag, 8. Januar 2012

Übriggebliebene Gedanken zu Franz Josef Degenhardt

Vor knapp zwei Monaten, am 14.November 2011 ist Franz Josef Degenhardt mit 79 Jahren gestorben. Ich habe diesen Text damals nicht fertig bekommen und es ist nicht zu erwarten, dass ich mit dem Thema jetzt noch nennenswert Klicks erheische. Zu schnell ist so eine Meldung wieder vergessen. Degenhardt hatte sich zudem schon seit einigen Jahren aus gesundheitlichen Gründen aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, aus dem öffentlichen Bewusstsein war er schon vorher so gut wie verschwunden, was, wie Konstantin Wecker und Prinz Chaos II. in einem Nachruf im Freitag berichten, auch damit zu tun haben mochte, dass seine Lieder ab Ender der 1970er nicht mehr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gespielt werden durften. Wie man auch an vielen Kommentaren zu Nachrufen oder Youtube-Videos sehen kann, sind es außerdem größtenteils die Jugendlichen der 1960er und 1970er, denen Degenhardt überhaupt noch ein Begriff ist. Am 19. Dezember fand ein schon vor Degenhardts Tod geplanter Tribute-Konzertabend mit allerlei alten und jungen Liedermacher und –Macherinnen statt, aber trotz sehr großem Andrang fand sich darüber praktisch gar nichts mehr in den Medien.

Ich selbst habe nur eine Platte – »Lullaby zwischen den Kriegen« von 1983 für 3,90 € aus zweiter Hand – und die ist ziemlich unhörbar. Das hat alles einfach einen zu starken Mief von Bonner Republik und alten Schlachten. Schlachten, an die ich mich mit meinen 27 Jahren nicht erinnern, sondern von denen ich nur gelesen habe, und von denen wir heute sehr weit entfernt sind, von den Genossen, von der Bombe, von der SS – nicht, dass ich meinte, es wäre gut, dass das alles uns heute wie aus dem letzten Jahrhundert vorkommt, aus dem es ja tatsächlich kommt, obwohl es doch gerade mal gut 25 Jahre her ist. Dass es diesen Mief hat, liegt vor allem an der Musik, dieser verstaubten Liedermacher-Klampfe-Mucke, der jede Sexiness fehlt, aber auch an den Texten, weil diese ganzen Wörter heute eben antiquiert wirken, und weil dem Gesang irgendwie der Flow abgeht.

Und dennoch, eine gewisse Faszination hatte Franz Josef Degenhard, und die lag darin begründet, dass er es sich nicht gemütlich gemacht hat, wie all die anderen „wohlgelittenen Barden“ (so die Taz), wie Konstantin Wecker, Hannes Wader, Wolf Biermann oder Bettina Wegner, in dieser unglaublich selbstzufriedenen, unglaublich selbstverleugnenden und unglaublich lähmenden Wohnzimmergesellschaft der Neue-Mitte-SPD und Neue-Mitte-CDU und ihrer Mitte-Rechts-Realität. Deswegen, weil er wirklich störte, und weil er zum Beispiel auch hartnäckig Mitglied der DKP blieb, wurde er folgerichtig auch nicht gehätschelt und getätschelt von der öffentlichen Aufmerksamkeitsmaschine, fand er eigentlich schon lange gar nicht mehr statt und war Leuten meiner Generation auch kein Begriff mehr. Sein „politisches Engagement“ (schon diesen Begriff, der ja politische Betätigung als Mithelfen bei der Sicherung der Demokratie und der Verbesserung des „freundlichen“ Deutschlands auffasst, hätte er sicher abgelehnt) hörte eben nicht bei Friedensdemos und Nazis-raus-Benefizen auf. Es fand eben nicht innerhalb unserer „demokratisch-freiheitlichen Grundordnung“ seine Grenzen, sondern stellte auch die sich am erfolgreichsten als ideologiefrei darstellende Ideologie, die kapitalistische Demokratie, in Frage. Weswegen er – seit seinem Ausschluss aus der SPD 1971 – auch nicht auf Parteitagen der SPD oder der Grünen zu finden war, sondern bei denen der DKP. Was natürlich ein noch viel schrecklicher kleinbürgerliches und rückwärtsgewandtes Milieu ist, aber immerhin für ein Festhalten an gewissen Grundüberzeugungen und Idealen steht. Vor allem der, dass es ohne ökonomische Gleichheit weder echte Gleichheit, noch echte Freiheit, noch echte Demokratie geben kann. Degenhardts Hauptanliegen war aber vor allem ein Infragestellen von allgemein anerkannten Überzeugungen und ein Blicken hinter die Fassaden der Menschen dieses Landes.

Degenhardt über den venrünftigen und unvernünftigen Deutschen auf dem Burg Waldeck-Festival 1997

Und immer hat er in seinen Liedern genervt, mit seinen zum Teil so bitterbösen wie haarscharf analysierenden Texten, und sicher auch mit seiner oben noch bemängelten knöchernen Sprache und der sägenden Stimme. Deutschlandradio Kultur hat etwas sehr Schlaues gemacht und Schorsch Kamerun angerufen um sich mit dem Sänger der Goldenen Zitronen über Degenhardt zu unterhalten, betonen die Goldis doch immer wieder, wie viel ihr Gesangsstil und ihre Texte Degenhardt verdanken zu haben. Das Gespräch ist einerseits erfrischend, weil Kamerun keine Krokodiltränen vergießt (das hätte Degenhardt, dem alle Rituale verdächtig waren, wohl auch kaum gepasst) und weil er sich nicht einmal scheut, Degenhardt ein Verharren in veralteten, unattraktiven Formen (dem Klampfe-Song) vorzuwerfen. Es ist andererseits aufschlussreich, weil Kamerun einen Bogen nicht nur zu den Liedermachern der Burg-Waldeck-Festivals der 1960er spannt, sondern auch in die Gegenwart, zu den ganzen Weichspül-Klampfern wie Gisbert zu Knyphausen oder ClickCickDecker, bei denen die Welt meistens beim eigenen Bauchnabel aufhört. Es sagt nichts Gutes über unsere Zeit aus, dass dermaßen langweiliges und kitschiges Zeug heute derart beliebt ist. Als einzig vertretbaren deutschen Songwriter, als einzigen, an dem noch etwas Sperriges ist, würde ich derzeit Hans Unstern nennen. Aber dazu vielleicht ein andermal mehr.

»Spiel nicht mit den Schmuddelkindern« war der bekannteste Song Degenhardts, gleichzeitig aber auch einer seiner glattesten und harmlosesten. Mit seiner kreisförmigen Struktur – das Kind, das früher verbotenerweise mit den Schmuddelkindern spielte, wird schließlich selbst zum Schmuddelkinder-Sozialisation verbietenden Vater – eignet es sich nicht nur für den Deutsch-Unterricht der gymnasialen Unterstufe, es kann sich auch jeder, der seinen Kindern das Spielen im Sandkasten und das Verweilen am Kaninchenstall erlaubt, denkbar leicht von der Kritik ausnehmen.

Besser, widerspenstiger und böser ist Degenhardt zum Beispiel in »Deutscher Sonntag«, in dem er die brodelnde Unzufriedenheit und die latente Gewalt beschreibt, die sich hinter deutscher Biederkeit verbirgt, in »Entschuldigung eines alten Sozialdemokraten« oder in »Wildledermantelmann«, in denen er die Abkehr der SPD vom Sozialismus kritisiert, in »Vatis Argumente«, in dem er die Argumente der APO-Gegner bloßstellt, in »Arbeitslosigkeit«, in dem er die Schönfärberei von Politikern und Unternehmern entlarvt, in »So sind hier die Leute«, in dem er die Beliebigkeit von Fremdenhass aufzeigt, oder  in der «großen Schimpflitanei«, in der er eine Auswahl von Beschimpfungen aus an ihn gerichteten Leserbriefen aneinanderreiht. Es ist schwierig, hier Text-Auszüge zu bringen, denn Degenhardt-Texte funktionieren meist als Ganzes, einzelne herausgerissene Sätze können das nicht auf den Punkt bringen. Und jaja, okay, auch all diese Lieder würden sich wahrscheinlich für den Schulunterricht eignen, aber da sind wir halt wieder bei dieser Liedermacherei, die ihre Nähe zur Pädagogik selten verbergen kann.

Psychoanalyse eines Sonntags in Deutschland

Die Bissigkeit vieler Texte liegt dabei vor allem in der Strategie Degenhardts, der Strategie, den Gegner sprechen zu lassen und ihn sich so gewissermaßen selbst entlarven zu lassen. Natürlich legt Degenhardt den Gegnern diese Worte in den Mund, aber er kopiert schon sehr genau deren Sprechweise und Argumentation, auch, weil es umso besser funktioniert, je genauer das nachgeahmt wird. In »Arbeitslosigkeit« zum Beispiel, und damit kommen hier gleich doch noch ein paar Textbeispiele, nimmt er die Position eines FDP-, CDU-, CSU-oder mittlerweile eben auch SPD-Politikers ein und singt:

Na und / wissen Sie aus diesem Thema / müssen endlich mal die Emotionen raus / schon der Begriff / das klingt so muffig / arbeitslos / das riecht nach Klo und Kappes. / Zeitweilig unbeschäftigt / sollte man das nennen. / Sehen sie das ganze doch mal / ohne Vorurteile an. / Das soziale Netz ist gut geknüpft / mit einem Bruchteil von der Unterstützung / die so einer kriegt / fühlt sich ein Kuli in Kalkutta / doch als Krösus

In der »großen Schimpflitanei« ist das natürlich auf die Spitze getrieben, weil es eben wirklich eins zu eins die Worte der Gegner sind:

Lieber Doktor Degenhardt / Drecksau mit dem Ulbrichtbart / Zonenknecht, Sowjetspion / warte nur Dich krieg‘n wir schon. / Rote Wanze, Schweinehund / Jauche spritzt aus deinem Mund / Abschaum von der schlimmsten Art / Gaskammer für Degenhardt. / Stalin-Bolsche-Kommunist / dass du bald verrecket bist.

Diese Strategie ist es auch, die die Goldenen Zitronen sich für einige ihrer Lieder von Degenhardt abgeschaut haben, und die sie dann nur mit aktuellen Worten und aktuellen Themen füllen mussten. Nicht, dass Degenhardt es erfunden hätte, nur hat er halt sehr oft und sehr effektiv davon Gebrauch gemacht. Zur Abkehr vom Fun-Punk, die die Zitronen 1994 mit dem Album »Das bisschen Totschlag« einleiteten, gehörten auch neue Texte. Bei »80.000.000 Hooligans« werden Phrasen der verharmlosenden und Tatsachen verkehrenden Medien wiedergegeben:

So so betroffen und zornig so plötzlich. / Sie hatten nachgezählt. / Sie entschieden 17 Tote seien jetzt genug. / Ja die Härte des Rechtsstaats ganz genau! / Zumal es waren ja anständige Ausländer / steuerzahlende Möllner fast wie du und ich. / Nachbarn können das / bezeugen 'Heil Hitler!' wurde gesagt. / Der erste Tote dieses Wochenendes wurde nicht mit aufgeführt. / Sogenannter Autonomer, abgestochen von stolzen Deutschen / verblutet auf dem Bahnsteig mitten in Berlin. / Aber aber nichts weiter als rivalisierende Jugendbanden. / Das bisschen Totschlag bringt uns nicht gleich um! / „Hier fliegen nicht gleich die Löcher aus dem Käse!“ sagt mein Mann. / Take it easy altes Haus wir haben schon Schlimmeres gesehn! / So einfach wird der alte Dampfer auch nicht untergehn!

Im »Lied der Medienpartner« vom aktuellen Album »Die Entstehung der Nacht« werden Rationalisierungen und Legitimierungen dieser Berufsgruppe aufgezählt, und schon damit lächerlich gemacht:

Einer muss den Job ja machen. / Eine muss den Job ja machen./  Eine und einer müssen die Jobs ja schließlich machen. / Das glitzernde Zeug verkaufen. / Nullcheckern voraus laufen. / Sprüche zusammenklauben und hinterher auf den Haufen draufhaun. / Jemand muss den Job ja bringen. / Den Sachzwängen etwas Positives abgewinnen. / Jemand muss den Laden am Laufen haben. / Denn laufen tut er sowieso auch wenn's schon besser lief.

Schorsch Kamerun sagt, dass einer wie Degenhardt heutzutage fehlt. Weinen wir also nicht den zumeist doch outgedateten Liedern Degenhardts nach, sondern weinen wir seiner Standhaftigkeit und Unbeirrbarkeit nach, und der Tatsache, dass es heute nur noch wenige seines Formats gibt. Die Goldenen Zitronen können als Brüder im Geiste Degenhardts gelten, und Degenhardt selbst hat dort seine Spuren hinterlassen. Auch sonst sind die besseren Liedermacher heute Bands, die Gustav, Ja, Panik oder 206 heißen.

Bericht und Interview von 1967: 'Wissen Sie das Lied ist ja ein sehr interessantes Ausdrucksmittel. Das Lied spricht nicht nur den Verstand des Zuhörers an, wie ein politischer Vortrag, sondern auch das Gefühl. Und diese Mischung aus rationalen und affektiven Momenten ist geradezu prädestiniert intellektuelle Unzufriedenheit zu artikulieren, also politische Kritik zu üben.'

-> Der Nachruf der Taz bringt auch etwas Kritik an Degenhardts allzu naiven politischen Auffassungen und Kategorisierungen
-> Ein ausführlicher und aufschlussreicher Nachruf wie immer auf beatpunk.org

-> Ein ebenfalls sehr aufschlussreicher Nachruf aus entschieden linker Perspektive
-> Die Liedermacher-Kollegen Konstantin Wecker und Prinz Chaos II. haben eine Würdigung für den Freitag verfasst
-> Ein sehr persönlich gehaltener Nachruf findet sich auf herrenzimmer.de

-> Das Schorsch Kamerun Interview auf DRadio Kultur
-> Einer der raren Berichte über das zum Abschiedskonzert geratene Geburtstagskonzert der Liedermacher-Szene

Mittwoch, 14. September 2011

Mit Bourdieu bei HGich.T

HGich.T in der Hamburger Morgenpost, 2009

Schock, Ekel, aggressives Nichtverstehen. Von „der schlechtesten Musik, die ich je gehört habe“ (laut.de), ist die Rede, von „mit Abstand eine[m] der beschissensten Alben des Jahrzehnts“ (intro.de), von „Voll-Nonsens,“ einem „mittelschwere[n] ödipale[n] Komplex und eine[r] nie überwundene[n] anale[n] Phase“ (Spex). Reflexe, die man (abseits von längst unbedeutend gewordenen Parallelwelten, die von verwirrten Leuten wie Eva Hermann bewohnt werden) längst für tot gehalten hatte, feiern bei der Begegnung mit HGich.T auf einmal fröhlich Einstand, als hätte es all die vergangenen Aufreger über Rock ‚n‘ Roll, Punkrock, Hip Hop, Techno, you name it… nie gegeben. Dass es so etwas noch geben kann, hatte man eigentlich schon gar nicht mehr für möglich gehalten.

„An der Tafel steht 1 + 1, was kommt raus? Sex Sex Sex im Scheißhaus!“

HGich.T, ein Band-/Performance-Kollektiv von zehn bis 15 Leuten aus der Umgebung Hamburgs, machen Boller-Mucke mit stumpfen Beats und debil anmutendem Sprechgesang in derber Hamburger Mundart, eine Mischung aus Schranz und Psy-Trance, soweit ich das beurteilen kann bzw. anderswo gelesen habe. Dabei wird, wenn man so will, der Loop großgeschrieben. Die Texte greifen Unterschichten-Klischees auf, wie sie das distinguierte Bürgertum, und damit durchaus auch die „kreative Bohéme“ von den Hartz-IV-Empfängern, den Migrationshintergrundfamilien und den überforderten Alleinerziehenden der „Neuen Unterschicht“ hat, und wie sie täglich auf RTL und Pro 7 in gescripteten „Reality“-Shows vorgeführt werden. Begonnen hat die Geschichte von HGich.T mit so-bekloppt-dass-es-schon-wieder-gut-ist-Videos auf Youtube, die „Tutenchamun“ oder „Hauptschule“ hießen, und die man sich auf sterbenden Partys gegenseitig als den nun aber endgültig krassesten Scheiß vorgespielt hat. Die Videos wurden mehr, dann folgte eine erste EP und im letzten Jahr das Album „Mein Hobby: Arschloch“.

„Den Song hab ich geschrieben!“


Und während das Ganze auf Platte doch etwas von seinem Youtube-Video-Spaßfaktor verliert (und bezeichnenderweise noch weniger Spaß macht, wenn man es sich allein anhört), wird es auf der Bühne zum absolut durchgeknallten Dada-Spektakel. Anna-Laura, Sänger und Anführer der Gruppe, gibt den infantilen Sachbearbeiter im Alkohol- und/ oder Drogenrausch, daneben tanzt dauergrinsend der Typ mit der Warnweste aus den Youtube-Videos, schwarz angemalt wie ein Minstrel-Sänger und in Erwachsenenwindel. Die Bühne ist passend zum nicht-Ernst-oder-doch-Ernst-gemeinten Goa-Flirt des Kollektivs mit weisen Fäden (die vorher in penibler Friemelarbeit hundertfach von Bühnengestänge zu Bühnengestänge gesponnen wurden) geschmückt und in Neon-Farben ausgeleuchtet. Der DJ scheint tatsächlich so ne Goa-Type zu sein, or is he? Und was für eine Rolle spielt das bei einer Band wie HGich.T eigentlich noch? Dazu tanzt ein Mädchen im Loveparade- bzw. Goa-Look. Lässt man sich darauf ein und wirft seine anerzogenen Hemmungen über Bord, macht das einen irren Spaß. Dass, wie bei anderen Auftritten der Band, Pimmel-Bilder gemalt werden, muss mir beim Konzert in der Roten Sonne entgangen sein, ein Dixi-Klo, wie bei anderen Shows war aber definitiv nicht dabei, aber auch das hätte das Schock-Potential von HGich.T nicht wirklich steigern können. Anna-Laura ist während des Geballers die meiste Zeit vor der Bühne und rempelt sich durchs Publikum, wobei er nie seinen Komasäufer-Blick verliert, also nie aus seiner Rolle in eine andere Rolle fällt. Jeden Song kündigt er stolz-infantil mit „den Song hab ich geschrieben“ an.

„Tut ja nicht so, als ob ihr was verstanden hättet!“

Trotz all der Schockerei (Schock, gähn…) sind es allerdings nicht so sehr, oder nur oberflächlich, die Schock-Elemente, die der Grund für die Entrüstung über HGich.T sind. Denn dafür ist selbst die HGich.T-Schock-Palette heutzutage zu harmlos. Viel eher bildet die Abwesenheit jeglichen Sinns den eigentlichen Kern des aggressiven Nicht-Verstehens, das dem Kollektiv entgegengebracht wird. Nicht nur lässt sich aus der Musik (via: den Texten) kein Sinn herauslesen, noch nicht einmal mittels Unterstellung von Ironie, Sarkasmus, Bad-Taste-Umdefinierung oder was sich der postmoderne Diskurs eben noch so ausgedacht hat, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Auch auf der Bühne geben HGich.T nichts preis, stiften im Gegenteil nur noch mehr Verwirrung, und selbst in Interviews bleiben die Mitglieder der Performance-Gruppe in ihren Rollen und weigern sich vehement, überhaupt auf gestellte Fragen einzugehen. Erklärungsversuche werden mit Dadaismus, Null-Aussagen, Fehlinformationen, und Parodien auf Interview-Antworten ins Leere laufen gelassen. Dazwischen gibt es zwar trotz alledem Hinweise auf Absichten und Überzeugungen der Bandmitglieder, von denen einige im „richtigen“ (besser: im „falschen“?) Leben immerhin“ „respektable“ Professoren oder Kunst-Studenten sind, aber das geht angesichts des ganzen übrigen Wirrwarrs dann doch meistens unter.

Dass das vor allem Journalisten hart trifft, ist nur logisch. Sie sind es schließlich, die den hungrigen Lesern die Welt erklären sollen, ständig Sinn aus etwas „herauslesen“ oder, näher dran, „herstellen“ sollen. Für etwas, das keinen Sinn „ergibt“, haben die meisten kein Rezept. Das einzige, was dann noch bleibt, ist die Sache für verwerflich-obszön oder harmlos-kurios zu erklären. Dass dieses ganze Sinn-Konstruieren ein zutiefst bürgerliches Phänomen ist – der herrschenden Klasse also hilft, oben zu bleiben – wird hier jetzt einfach mal nur am Rand erwähnt.

"Das System ist das Problem, ja? Ja! Das System ist im System, ja? Ja! Ich bin das System, ja? Ja!"

Sänger Anna-Laura

Nun ist peinliches Vermeiden von Sinnproduktion natürlich auch schon wieder, richtig: Sinn. Denn wo sich wiederholte Unsinnigkeit zu vorhersagbarem Verhalten verdichtet, ist bewusstes Handeln nicht mehr weit, und ehe man sich versieht, schwirren auch schon Zwecke umher. Der Sinn, die Agenda von HGich.T ist also das unablässige Herstellen von Sinnlosigkeit. (Und da läuft sie schon wieder, die Sinnkonstruktions-Maschine.) Gleichzeitig sind HGich.T die ganz großen Distinktions-Praktiker.

„Die feinen Unterschiede“ (frz. „La Distinction“) hieß eine 1979 von Pierre Bourdieu veröffentlichte Studie, die die kulturellen Abgrenzungsmechanismen gesellschaftlicher Schichten am Beispiel der französischen Gesellschaft beschrieb. Die total vereinfachte Grundthese des Buches könnte lauten, dass sich soziale Schichten nicht nur anhand wirtschaftlicher, sondern auch anhand kultureller Kriterien beschreiben lassen. Nicht individueller Geschmack, sondern schichtenspezifische Geschmacksrichtungen sind demnach ausschlaggebend für den Kulturkonsum des Einzelnen. Mittels dieser Geschmacksrichtungen grenzt sich eine gesellschaftliche Schicht von der anderen ab, soziale Unterschiede werden festgeschrieben: Distinktion. Und hier kommen HGich.T ins Spiel, denn sie unterlaufen diese Geschmacksgrenzen und entblößen so das ganze schale Distinktions-Gehabe.

Indem HGich.T sich – und das ist wichtig – trotz besseren Wissens einen feuchten Kehricht um Geschmacksgrenzen scheren, führen sie dem distinguierten Bürgertum das distinguierte Bürgertum vor. Die „stumpfe“ Schranz/Trance-Mucke und die „bekloppten“ Texte entblößen meine Dial-Alben und meine Animal-Collective-Platten als Ergebnis jahrelanger, zeitintensiver und sozialisationsbedingter Distinktionsarbeit. Der „billige“ Goa-Chic und die knallbunte „Unterschichten“-Ästhetik stellen meine sorgfältig zusammengetrödelte, gedecktfarbene Retro-Einrichtung und meinen American-Apparel-plus-Flohmarkt-Look in Frage. Das „asoziale“ Verhalten des Kollektivs entlarvt mein „gesittetes“ Benehmen in seiner ganzen Angepasstheit. Und deswegen ist es übrigens auch nicht nur erfreulich, sondern nur logisch, dass bei einem HGich.T-Auftritt die verschiedensten Charaktere auftauchen. Fühle ich mich bei vielen meiner übrigen Konzertbesuche oft wie ein Klon in einer einzigen Masse aus so „geschmackvoll“ gekleideten wie „gut“ erzogenen Hipster-Klonen, tanzen bei HGich.T ausgelassene jugendliche Komasäufer in Warnweste neben verschüchterten Hipstern mit Jutebeutel.

„Mama, ich muss A-A!“

Beim Dreh zu "Tutenchamun"

HGich.T sind ein Aufruf, selbstauferlegte bzw. gruppendynamische bzw. schichtenspezifische Geschmacks- und Benimm-Kodizes zu hinterfragen und über Bord zu werfen, weswegen ein Konzert von HGich.T auch so befreiend und revealing sein kann. Es kann das allerdings nur sein, weil HGich.T einen zwar sinnfrei erscheinenden, aber im Kern dennoch intelligenten Humor besitzen, der sie nicht zuletzt von Sachen wie Frauenarzt, denen sie rein musikalisch gar nicht so unähnlich sind, unterscheidet. (Stattdessen teilen sie diese Art Humor mit Leuten wie Helge Schneider und dem Filmemacher Wenzel Storch). Damit sind HGich.T auch eine unmittelbare Kritik an einem während der Nuller Jahre sich in immer feineren Verästelungen ausdifferenzierenden Indie-Mainstream, dessen Ziel es zu sein scheint, immer geschmackssicherer und feinfühliger zu werden.

Die Dial-Alben von der Festplatte zu löschen und die Animal-Collective-Platten bei Discogs zu verhökern dürfte keine Lösung sein. Sich möglichst nichts drauf einbilden schon eher. Und sich vielleicht auch mal fragen, was genau immer kenntnisreicher und handwerklich immer perfekter umgesetzte Aktualisierungen alter Sounds, wie sie im „Indie“-Segment die letzten Jahre Trend sind, eigentlich bringen. Denn wenn die Indie-Maschine tatsächlich immer einfach so weiter läuft, könnte es schon bald ziemlich langweilig werden im Mainstream-der-Minderheiten-Land. Sachen wie HGich.T lassen allerdings hoffen, dass es dazu doch nicht kommen wird.

HGich.T: Mein Hobby: Arschloch
Tapete, 16.07.2010











-> Die wilde HGich.T Homepage (passt auch ins Programm, passt das doch so gar nicht zur bürgerlichen wie hippen Aufgeräumtheit - von entsprechenden Web-Auftritten oder Zeitschriften, zum Beispiel)
-> Das art-Magazin sieht HGich.T die Zivilisation aufkündigen, eine veritable Lesart

Samstag, 9. Juli 2011

Pollyester / Pollyester Parking Lot II @ MaximilansForum, 07.07.2011

Lange, sehr lange schon sollte hier mal Pollyester gnadenlos abgefeiert werden. Seit 2008 hauen sie verlässlich eine großartige 12‘‘ nach der anderen raus. »You Are Amen« (2008), »Round Clocks« (inkl. dem trippigen »Indian«, 2009), »German Love Letter« (2010): alles allerfeinste Qualitätsware. Jede 12‘‘ ein Statement, dass aus der Masse des großen Elektro-Einheitsbreis heraussticht. Im Mai schließlich das Album, das die erschienenen Songs noch einmal versammelte und neue poppige Facetten von Pollyester zeigte. Zuletzt waren Pollyester unterwegs in New York und Umgebung, wobei der Film »Earthly Powers« entstand, der Pollyester an „verwunschenen Orten“ und „aufgegebenen Plätzen“ wie einer entweihten Kirche oder einem verlassenen Nobelhotel zeigt.

Daraus wurde nun „Pollyester Parking Lot II“ im MaximiliansForum, die Fortsetzung vom „Pollyester Parking Lot“ des Frühlings 2010, das, wie sich das heute so gehört, ebenfalls Kunst und Party verband. Für die zweite Episode des Parkplatzes wurde von mehreren Künstlern eine sinkende Kirche in die ehemalige Fußgängerunterführung gebaut, ein Nachbau der „Church of the Little Green Men“, die Pollyester in den Catskill Mountains im US-Bundesstaat New York entdeckten. Das Ganze geht noch bis zum 23. Juli, verschiedene Installationen und Performances werden gezeigt, und natürlich Partys gefeiert, unter anderem eine neue Ausgabe von Zombocombo, bei denen Polly ja auch stets ihre Finger im Spiel hat und auflegt. Zur Eröffnung am 7. Juli spielten Pollyester, also Polina Lapkovskaja (alias Polly) und Manuel da Coll (alias Yossarian, nach der genial schrägen Figur aus Catch 22) plus Band, wenn man so will. Zunächst bekam man aber den Film zu sehen, eine Art Doku-Collage, aber wie das so ist bei öffentlichen Filmvorführungen in einem Party-Umfeld, kam dabei zwischen Bier Holen, Zigarette rauchen und Labern nicht viel rum. Danach wurde das ausschließlich aus Hipstern bestehende Publikum noch etwas mit Iggy Pop und Velvet Underground umgarnt, bevor es endlich hieß: Konzert.


Und gleich die erste Überraschung: Drummer Yossarian, Synthie-Mann Kaput und der Gitarrist (wer nur, wer?) spielen in der Kirche, Polly steht auf der gegenüberliegenden Seite, wo sie singt und ein paar Percussions bespielt. Wo hinschauen? Nach dem ersten Lied (»You Are Amen«) wechselt aber auch Polly in die Kirche, so dass sich ein schönes Tryptichon mit Polly in der Mitte ergibt. Die drei im ersten Stock müssen sitzen oder sich bücken, nur Yossarian im Kircheneingang kann aufrecht stehen, muss dafür aber in Kauf nehmen, kaum gesehen zu werden. Von der ersten Sekunde an bin ich mitgerissen, das Publikum insgesamt braucht wohl etwas länger, irgendwann sind aber alle euphorisiert, naja, zumindest alle, die sich in der Nähe des Kircheneingangs aufhalten. „Und du kommst schrecklich ins Schwärmen, in deinen Worten ist Exzess…“ singen Ja, Panik in »Mister Jones & Norma Desmond« und kritisieren damit zurecht eine überkommene und langweilige Form der Pop-Berichterstattung. Deshalb hier mal ganz nüchtern: es war ein sehr sehr guter Auftritt.

Und warum, wenn doch noch nichtmal das gesamte Publikum total ausrastet, wie das immerhin bei jeder Party von Frittenbude der Fall ist? Wegen der treibenden, hypnotischen Wirkung der Musik von Pollyester, wegen ihrer Tanzbarkeit, genau so aber auch wegen ihrer Interessantheit und Verspieltheit. Die Musik von Pollyester ist Party in schlau. Das Herz dieser Musik ist das Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug, das die Songs – und die Tänzer – unaufdringlich, aber zwingend vorantreibt. Die BPM-Zahl bewegt sich dabei oft im unteren Bereich, so dass der Bass ausreichend Platz bekommt, um diese catchy Basslines zu spielen. Hier ist er vielleicht, der „Techno-Gott“ von Rainald Goetz, nur dass er eben nicht plump „Bum Bum Bum“ sagt, sondern „Bum Bumbuuum Bumbum Bumbuuum“ und ähnliche Sachen. Gewiefter halt, gewiefter auch als 99% der restlichen elektronischen Musik, die im Moment so um den Globus schwirrt.

Auf diese unglaublich tighten Rhythmen werden Pollys hypnotisch-zickiger Gesang und einzelne, oft simple Synthie-Spuren gelegt. Wobei sich auch der strenge Minimalismus Pollyesters zeigt: kein Song, der auch nur nur ein Element zu viel hat, nichts wird hier für den Effekt gemacht, alles passt seltsam organisch zusammen. Und weil diese einzelnen Elemente so sorgsam ausgewählt sind, kommen am Ende eben trotzdem vielschichtige, überbordende – und überaus tanzbare – Songs raus, bei denen man sich selten auf mehr als zwei Sachen konzentrieren kann und in den besten Momenten alles miteinander zu verschmelzen scheint.

Live ist diesmal noch eine Gitarre dabei, die sehr passende, funkige Sachen zum Pollyester-Sound beisteuert. Das gibt einigen Songs noch eine extra Note, verdrängt aber auch ein wenig den Synthie und nimmt den Songs manchmal eine Spur dieser Spannung, die sonst das Resultat der minimalistischen Herangehensweise ist. Interessanter als 1:1 die Platte nachzuspielen ist das aber allemal.


Oft werden die Songs nach einer Weile durch einen rhythmisch ungeraden Teil gebrochen, in denen Polly in einen emotionslosen Sprechgesang wechselt, der sich sehr viel von den Chicks on Speed abgeschaut hat. Der Loop wird durchbrochen, wenn der Song nach diesen Breaks wieder durchstartet, hat er die doppelte Kraft. Das hat also ungefähr die Wirkung von Bässe raus, Bässe rein, dem Abfahrt-Signal eines jeden Dorf-DJs, ist aber zehnmal innovativer und interessanter und macht deshalb auch zehnmal mehr Spaß.

Pollyester spielen so ziemlich alle Songs des Albums. Höhepunkte sind dann auch die Höhepunkte des Albums: »Round Clock« mit seiner simplen wie infektuösen Synthie-Melodie, »Concierge d’Amour«, der „Hausmeister der Liebe“ mit seinem 80er-Jahre Synthie (bei dem ich immer an »Ghost Busters« denken muss), oder »Old Shoe« mit seinem melancholischen C64-Computerspiel-Sound. Unter allem wie gesagt der tighte Groove von Schlagzeug bzw. Percussions und Bass. Und der mal glasklar-feenhafte, mal affektiert-zickige Gesang von Polly.

In der Spex wurden Pollyester mit Les Rita Mitsouko, bzw. Polly mit der Sängerin von Les Rita Mitsouko, Catherine Ringer, verglichen. Der Gesang und das Pop-Verständnis Pollys, aber auch die 80er-Jahre Synthies sorgen für diese Nähe zu „Glam-Pop und New Wave“. Aber auch die Disco ist nicht weit entfernt: der Munich Sound, den Giorgio Moroder in den 1970ern mit Donna Summer entwickelte, ist gleich um die Ecke vom Sound of Pollyester. Auch das Münchener Label Gomma (u.a. Munk) überführten und überführen den Munich Sound und die verwandte Italo Disco stilsicher (das heißt vor allem immer knapp vorbei am Kitsch) ins neue Jahrtausend, die mit Mixen von Hell und Bands wie u.a. Hercules and Love Affair während der letzten Jahre eine regelrechte Renaissance erfuhr. Pollyester haben dennoch einen unverwechselbar eigenständigen Sound kreiert. Minimalistisch und trotzdem verspielt, verwunschen und gleichzeitig hypnotisch, intelligent und dennoch mit der nötigen treibenden Kraft, um zum Tanzen zu überreden. Ein sehr sehr gutes Konzert eben.

Pollyester: Earthly Powers
Permanent Vacation

-> Die Artist-Page von Pollyester bei Permanent Vacation
-> Pollyester Parking Lot II

Dienstag, 24. Mai 2011

Spex-Replik: auf der Suche nach dem verlorenen Protestsong?

Die Mai/Juni-Ausgabe der Spex hebt einen 21jährigen Bob Dylan anlässlich dessen 70. Geburtstags aufs Cover und vermeldet dazu das Verschwinden des Protestsongs. Nicht nur könnte man langsam einmal anerkennen, dass Bob Dylan sich spätestens mit »John Wesley Harding« aus dem Jahr 1967 von Protestsongs komplett lossagte, dass er außerdem zeitlebens die ihm immer wieder zugeschriebenen Rollen als Prostest-Sänger und Stimme einer Generation vehement von sich wies. Es fragt sich auch, welcher Idee von Protestsong die Spex da hinterherläuft. Wenn man unter einem Protestsong ein Lied mit explizitem politischen Inhalt versteht, vorzugsweise gegen einen Krieg, vorgetragen mit Klampfe und Mundharmonika, dann ist der Protestsong natürlich schon lange tot. Und zwar zu Recht. Aber eben auch nur dann.

Denn wenn eine Definition von Protestsong auch Lieder umfasst, die sich textlich reflektierter, indirekter oder mehrdeutiger geben (oder ganz auf Text verzichten), und die sich des gesamten Instrumentariums und aller Praktiken des soeben angebrochenen Jahrzehnts Nr. 6 nach den 1960ern bedienen dürfen, dann ist der Protestsong alles andere als tot. Dann befindet sich in der gleichen Spex mit der Rezension von Ja, Paniks »DMD KIU LIDT« eine Besprechung eines erstklassigen Protest-Albums. Dann braucht man nur drei Monate zurückzublicken und man findet mit PJ Harveys »Let England Shake«, dem Album des Monats der letzten Spex, ebenfalls ein Album voller Protestsongs, sogar Lieder gegen den Krieg. Dann entdeckt man in den jeweils letzten Veröffentlichungen allein der hiesigen Szene eine ganze Heerschar von Protestsongs. Ob »Soldatin oder Veteran« von Gustav (oder »Verlass die Stadt«, oder »Abgesang«, oder…), ob »Bloß weil ich friere« von den Goldenen Zitronen (oder »Börsen crashen«, oder »Aber der Silbermond«), ob »Die Folter endet nie« von Tocotronic, oder »Convenience Shop« von den Sternen. Zum Teil direkter und plumper, als man das von einigen Bands gewöhnt ist, wird in all diesen Liedern eine Unzufriedenheit geäußert, gegen bestehende Zustände protestiert. Und da ist jetzt weder groß elektronisch was bei, noch Hip Hop oder was es sonst noch alles an schönen Schubladen gibt.

Die ersten Zeilen, die auf dem neuen Album von Ja, Panik gesungen werden, lauten „Wohin ich blicke, seh‘ ich jemanden, der sich für jemand anderen zum Trottel macht, und ich befürchte, das hat sich nicht einmal, nein das hat sich niemand ausgedacht.“ »This Ship Ought to Sink« heißt der Song, und was mit dem Schiff gemeint ist, dürfte klar sein, nur gibt es eben keinen eindeutig auszumachenden Verantwortlichen, kein klares Feindbild. In »Barbarie« heißt es „Es steckt in meinem Kopf, es klebt an meinen Schuh’n, they brought it on the news last afternoon, the dark times they’ve just begun, there’s darkness in the years to come, […] I could easily blame it on somebody else, it’s all to blame on me, I’m the last born of an incest dynasty, my mother is the Barbarie itself.” Die eigene Verstrickung in das wie-es-nun-mal-Ist wird hier thematisiert, ist es deswegen kein Protestsong mehr? Braucht ein Protestsong naive Vereinfachungen, klare Fronten, schwarz-weiß-Malerei? Würde ein Protestsong heute so überhaupt noch funktionieren? Abseits von Wolfgang Niedecken oder Gunter Gabriel, bei denen es das eben nicht mehr tut? Ich werde den Teufel tun und aus dem Titelstück »DMD KIU LIDT«, kurz für „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“, aus diesem Dylan-Monster (aber wir wollten Dylan ja endlich einmal in Ruhe lassen) einzelne Zeilen zitieren. Denn, wie der Titel schon anmerkt, liegt – auch das eigentlich eine alte Spex-(via-Blumfeld-)Weisheit – das Politische im Privaten, hängt alles mit allem zusammen. Dennoch finden sich auch in diesem Song explizit politische Zeilen, die radikalsten und zornigsten des Albums, ja, es wird sogar eine vage Utopie formuliert. Einiges an Protestongs also, mithin Lieder, die im Vergleich zu den vorigen Alben von Ja, Panik vielleicht an Lautstärke und Schmissigkeit verloren, an Intensität und Dringlichkeit jedoch unglaublich zugenommen haben. Etwa wenn Sänger Andreas Spechtl in »Nevermind« leicht zähneknirschend spricht, begleitet nur von einer unheimlich zornigen, elektrisch verstärkten Gitarre. Mit Sicherheit das großartigste deutsch-und-englischsprachige Protest-Album des Jahres.


Eine Mischung aus Falco und Dylan und explizit wie implizit politisch: DMD KIU LIDT

Aber auch auf internationaler Ebene kam mit PJ Harveys »Let England Shake« erst vor kurzem ein Meilenstein musikalischer Protestkultur auf den Markt. Gnadenlos wird mit Englands Verwicklung in Kriege wie den Afghanistan-Krieg abgerechnet, oft in Liedern, die sich gegen Krieg allgemein äußern. Der Titelsong rechnet mit dem blutverschmierten England ab; „erzittern“, beben soll es, schwer vom Gewicht der „silent dead“, wie es da im Atlantik rumliegt. »On Battleship Hill« ist eine universelle Kriegs-Parabel (auch wenn sie auf ein Geschehnis von vor 80 Jahren anspielt), die die Sinnlosigkeit von Kriegen anprangert. Denn der einzige Sieger ist die „cruel nature“, die den vom Krieg vernarbten Hügel wieder überwuchert. Aber auch 80 Jahre nach der Schlacht liegt dort noch „a hateful feeling“ in der Luft, das daran erinnert, dass hier einst ein anderer Auswuchs der grausamen Natur seine Spuren hinterließ. »The Words That Maketh Murder« nimmt die Perspektive eines Soldaten ein und schildert die Ungeheuerlichkeiten des Kriegs aus dessen Sicht, gleichzeitig erinnert der Song daran, dass es Worte sind, die das Morden erst möglich machen. Eine Schrammelgitarre, Handclaps, eine schunkelige Trompete und ein Sixties-Männer-Chor, der „The words that maketh murder“ trällert, begleiten das Lied und verleihen ihm trotz der düsteren Stimmung eine gewisse Leichtigkeit, Tanzbarkeit sogar. Schönes Kunststück, das PJ Harvey öfter auf diesem Album gelingt. Moderne Protestsongs müssen also keineswegs dröge sein, gerade deshalb wird »Let England Shake« über Jahre hinweg ein Referenzpunkt in Sachen Protestlieder bleiben.


PJ Harvey hat vor, zu jedem Lied des Albums ein Video zu drehen. Viele davon sind schon auf Youtube.

Man hätte also genau so gut einen 26jährigen Andreas Spechtl auf das Cover nehmen können, und dazu die Wiederentdeckung des Protestsongs verkünden können. Oder eine 41ährige PJ Harvey schon in der letzten Ausgabe, mit der gleichen Schlagzeile.

Aber vielleicht fehlt ja vor allem der Protest, nicht die Lieder dazu? Schließlich kann jedes Lied als Protestsong hergenommen werden, solange eine Community oder Protest-Bewegung sich damit identifiziert. In diesem Sinn wären die oben genannten Songs lediglich „politische Lieder“, die sich zu Protestsongs eignen würden. Die Eignung als Protestsong ist allerdings keineswegs eine Qualität, die ausschließlich im Lied selbst liegt. Aber auch hier gilt: keine Protestsongs mehr? Bei mir liegt noch eine Platte vom vorletzten Hamburg-Besuch rum mit dem schönen Titel »Plötzlich sagen alle, ich sei konkret ein Gentrifizierungswixer, dabei hab ich mir schon seit längerem immer voll geil einen auf St. Pauli abgewixt«. Eine EP mit Protestsongs gegen die Gentrifizierung in Hamburg, der unter anderem Remixe von den bereits erwähnten Gustav und den Goldenen Zitronen enthält. Auch der »Frappant-Haus-Song« des Due Nutti Soundsystem (die Frau und Herren Rica Blunck, Jacques Palminger und Viktor Marek, auch unter dem Name Jacques Palminger & the Kings of Dub Rock unterwegs), eine Neu-Interpretation des Ton-Steine-Scherben-Hits »Rauch-Haus-Songs« von Ton, Steine, Scherben wurde zur Zeit der Proteste gegen die grassierende Gentrifizierung in Hamburg in den Kampf geschickt. „Nur“ ein Cover also, aber ist die Aktualisierung eines alten Protestsongs nicht eine dieser Zeit angemessene Strategie, ist der Verweis auf bereits geführte Kämpfe nicht gewitzter, als einen „neuen“ Rauch-Haus-Song zu schreiben, der ja doch nicht mehr „neu“ sein könnte?

Und der Klampfe-Protestsong a la „Masters of War“, auf den sich in der Spex auch der alte Protest-Sänger Kristof Schreuf in seinem Protestsong-Abgesang bezieht, ist ja aus gutem Grund aus der Mode. Nicht nur tut er, wie Schreuf schreibt, der Musik Gewalt an, indem er Inhalt über Form stellt. Auch sind die Zeiten nicht mehr dieselben wie 1963. Die Probleme sind nicht mehr so simpel, wenn sie das überhaupt jemals waren. Zwar ist Krieg immer noch Krieg, aber die Verflechtungen und Verwicklungen bis hinunter zu einem selbst treten heute deutlicher hervor, als noch in der bipolaren Welt des Kalten Kriegs. Der Klampfe-Protestsong hat sich angesichts dessen überlebt, er war immer schon viel zu naiv. Die Reaktivierung eines alten Protestsongs in neuem Gewand kann dennoch eine Strategie sein, diesen Umstand zu reflektieren, und trotzdem klar gegen etwas Position zu beziehen. So geschehen bei „Masters of War“ von Anika, der mit kühler, unnachgiebiger Frauenstimme vorgetragen wird, und mit einem Dubstep-Beat unterlegt ist, der stark an »My Generation« von The Who erinnert. Das bessere Lied auf dem Album von Anika ist trotzdem ein Cover des Bubblegum-Pop-Hits »Terry« der Bubblegum-Pop-Ikone Twinkle.

Spex hat zusammen mit Byte.FM nach neuen Protestsongs gesucht, die auf die „politischen, sozialen oder kriegerischen Konflikte der vergangenen Monate“ Bezug nehmen. Sicher wieder Männer, die das ausgeheckt haben. Protestsongs, die als Antwort auf einen derartigen Aufruf entstanden, möchte man sich am besten gar nicht erst anhören. Am erträglichsten, am angebrachtesten auch, schiene mir die Herangehensweise eines gewissen Knarf Rellöm auf einem Hamburger-Schule-Herzschmerz-Sampler namens »Paradies der Ungeliebten«. In »Warum ‚Paradies der Ungeliebten‘ ein Scheißtitel ist« regte er sich einst über Herzschmerz-Songs auf und machte sich über deren Struktur lustig. „Ich steh‘ vor dem Fenster und komm nicht rein“ hieß es da, und zum Sampler sagte er nur „NMV – nicht mein Verein“. Aber seht selbst, was dabei herausgekommen ist, die Jury immerhin hätte mit dem Ja-Panik-Sänger Andreas Spechtl, dem Lassie-Singer- und Britta-Mitglied und mittlerweile bestens auf Solopfaden reisenden Christiane Rösinger, dem u.a. Tocotronic-Manager Stephan Rath und dem Byte.FM Moderator Klaus Walter nicht vielversprechender ausfallen können.

-> Die 10 Gewinner-Protestsongs auf Spex.de
-> Ich bin wie immer zu spät, mittlerweile hat die Spex mal wieder (das dürfte auch die eigentliche Absicht gewesen sein) eine bunte Debatte über Politik und Musik losgetreten
-> das Juice Magazin, die Hip-Hop-Dependance des Piranha Verlags, in dem auch die Spex verlegt wird, kann im Deutschrap keinen Mangel an Protestsongs feststellen, viel eher sollte Hip Hop mal wieder in die Debatten aufgenommen werden

Ja, Panik: DMD KIU LIDT
Staatsakt, 15.04.2011





PJ Harvey: Let England Shake
Island, 11.02.2011

Dienstag, 3. Mai 2011

Ausgegraben: Punk/NDW-Fanzines

Leute, wie die Zeit vergeht. Fast zehn Jahre ist das Spektakel des deutschen Punk der Nuller Jahre, die Veröffentlichung von Jürgen Teipels Interview-Geschichtsband »Verschwende deine Jugend«, jetzt schon wieder her. Uralte Punk/NDW-Bands hatten sich angesichts des durch Teipels Buch verstärkten erneuten Interesses wiedergegründet: DAF, Slime (alias Rubberslime), die Radierer oder Die Mimmi’s; nur aus der ewig angekündigten Male-Reunion ist nichts geworden. Auch die Fehlfarben hatten, allerdings schon vor Erscheinen des Buchs, wieder zusammengefunden. Was in diesem wichtigen Buch auch immer wieder deutlich wurde: welche große Rolle Fanzines für die Szene spielten.

Etliche Ausgaben zwei der wichtigsten Fanzines, dem Ostrich (ab 1977) und dem Heimatblatt (ab 1979), aus der wichtigsten Stadt, Düsseldorf, kann man seit einiger Zeit auf der Homepage von Franz Bielmeier, seines Zeichens Gitarrist und Texter bei den Fehlfarben-Vorgängern Mittagspause, Ostrich-Gründer und Betreiber des Labels Rondo, finden. Nicht nur Bielmeier spielte und schrieb gleichzeitig, auch Peter Hein (u.a. Mittagspause, Fehlfarben, später Family 5) Jürgen Engler, Bernward Malaka (beide Male, später die Krupps) oder Gabi Delgado-Lopez (DAF) schrieben über die Szene, deren wichtigste Protagonisten sie gleichzeitig waren.

Bei der ganzen Sache ging es zu gleichen Teilen darum, sich mitzuteilen, Gleichgesinnte zu finden und mit Geheimwissen anzugeben, aber auch, die eigene Identität auszuformen. Leidenschaft ist das Stichwort, jeder Seite merkt man den Enthusiasmus an, mit dem geschrieben wurde, ganz gleich ob Lobhudelei oder Verriss. Fabelhaft oder miserabel, ein dazwischen gab es nicht. Außerdem jede Menge Klatsch und Tratsch, und jede Menge dadaesken Ulk. Zentral natürlich die lokalen Bands, Plattenläden, Clubs, Veranstaltungen und Konzerte.

Links der erste Ostrich, rechts die dritte Ausgabe des Heimatblatts. David Bowie, The Modern Lovers, Lou Reed, Pattie Smith, The Stooges, und Hansaplast, Male, Mittagspause, S.Y.P.H., DAF, Buzzcocks, 999: nur einige der großen Namen der Zeit.

Was beim Durchstöbern der mit punkiger Schludrigkeit zusammengeklebten Zeitdokumente aber auch auffällt: wie sehr es um bloße Informationen ging. Wer in einer Band spielte, wie lange es die Band schon gab, welche Platten von ihr draußen waren, die Liedtexte, was der Punk gerade in England macht, was in Hamburg los ist. Und das keineswegs nur bei lokalen deutschen Bands, sondern auch bei mittlerweile überall als Proto-Punk anerkannten Bands wie Velvet Underground oder den Modern Lovers. An diese Infos war damals offensichtlich nur schwer ranzukommen; die etablierten Medien berichteten ausschließlich über die lahmen und zahmen Ausläufer des 60iger Jahre Rock ‚n‘ Roll, sei es Progrock oder Folk-Rock, oder über Disco. Über Punk wurde, wenn überhaupt nur negativ, etwa als „Nazi-Bewegung,“ geschrieben.

Neben den einschlägigen englischen Punkbands wie Sex Pistols, Clash, 999, Slits, Buzzcocks, Wire, Sham69, Vibrators, Adverts und wie sie alle hießen fanden vor allem lokale, das heißt Düsseldorfer Bands und damit die erste Liga der ursprünglichen deutschen Punkbewegung in die Hefte: Male, Charley’s Girls, deren Nachfolgeband Mittagspause, deren Nachfolgeband Fehlfarben, DAF, der Plan, ZK, S.Y.P.H., KFC, aber auch Hans-A-Plast (aus Hannover) und Abwärts (aus Hamburg) und viele weitere heute vergessene Namen. Auch wenn Düsseldorf das Hauptthema war (wie auch nicht), gab es von Zeit zu Zeit Städte-Specials, allen voran aus London und Hamburg. Erstaunlich auch, wie viel Platz Bands und Leuten wie Lou Reed und den Velvet Underground, Iggy Pop und den Stooges, Patti Smith, Jonathan Richman und den Modern Lovers, Television oder David Bowie eingeräumt wurde. Erstaunlich trotz der Tatsache, dass diese Bands wie gesagt heute durch die Bank als Proto-Punk verhandelt werden. Die Ähnlichkeiten in der Herangehensweise und im Sound dieser Bands mit späteren Punkbands waren keineswegs nur im Rückblick als Kontinuität wahrgenommen worden. Die verschütteten Spuren von Velvet Underground über Patti Smith bis zu den Sex Pistols waren schon im Geburtsjahr des deutschen Punk erkannt worden. Diese Bands spielten tatsächlich eine aktive Rolle als Inspiration für deutsche Punk-Bands, waren nicht nur Referenzen aus der Vergangenheit, denen man im Nachhinein eine ähnliche Geisteshaltung zuschrieb.

Charley’s Girls, die Vor-Vorgänger-Band der Fehlfarben, coverten u.a. White Light/ White Heat von Velvet Underground, Roadrunner von Jonathan Richman and the Modern Lovers und No Fun von den Stooges

Es ist dann wohl Bands wie den Toten Hosen oder Slime zuzurechnen, dass das Wissen um Punk bei vielen heutigen Punks nicht weiter zurückreicht als bis zum magischen Jahr 1977. Davor: Hippie-Musik, danach und bis heute: Punkrock. So lautet die vereinfachende Formel. Sicher teilten aber auch schon damals nicht alle Punks die Meinung der Fanzine-Schreiber-»Avantgarde«. Nicht umsonst hatte sich die Punk-Bewegung bald in zwei oder mehr Lager aufgespalten, eine kreative, offene Fraktion auf der einen (sagen wir mal Intensität), eine dogmatische, formkonservative Fraktion auf der anderen (sagen wir mal Härte, auch gerne Alkohol und Gewalt), etwas später aber auch der bierernste politische Punk und die Antwort darauf, hedonistisch-ironischer Funpunk. Inklusive all der schönen Überschneidungen, Schattierungen und Fluchtlinien.

Nur manchmal fanden politische Themen, in die Hefte meist in überspitzter und ironischer Weise, etwa beim leichtfertigen Umgang mit Hakenkreuzen. Überhaupt war Ironie damals noch eine neue und wirksame Waffe, die auf totales Unverständnis im Rest der Bevölkerung traf. Doch weitaus politischer und radikaler war die Machart der Hefte. Do-It-Yourself waren Fanzines ja sowieso, und auch in der Sprechweise und der Gestaltung wurde der Ethos des Punkrock auf das Papier übertragen. Die Texte waren begeistert, frech, ironisch, lustig, manchmal wie hingerotzt, oft persönlich und oft auch persönlich beleidigend. Auf die Distanz und vermeintliche Objektivität, auf die ganze Langeweile der professionellen Berichterstattung wurde geschissen. Heraus kam eine direkte, leidenschaftlich Position beziehende, eine anarchische Sprechweise. Und auch in der Gestaltung wurde dieser anarchische Habitus umgesetzt: durch Cut-up Collagen, durch das Belassen von (oft durchgestrichenen) Schreibfehlern, durch den Wechsel von Schreibmaschine und Handschrift, durch freies Layout.

Das allmähliche Ende dieser Fanzines kam um die Jahre 1979/1980. Die neue Musik war – (nicht erst) mit Alfred Hilsbergs begriffprägender dreiteiliger Serie »Neue Deutsche Welle - aus grauer Städte Mauern« im Musikmagazin Sounds 1979 – in den etablierten Medien angekommen, dem Monster ein Name gegeben. Das Informations-Vakuum bestand nicht mehr, damit schien auch die Notwendigkeit von Fanzines nicht mehr unbedingt gegeben (sicher ein Irrtum, da damit eben auch die spezifische Sprechweise der Fanzines verloren ging). Das ist in gewohnt direkter Weise gleich in der ersten Ausgabe des Streichs, einem Fanzine aus Dortmund, ausgesprochen:

„Ach, ansonsten überhaupt kauft euch doch die Sounds, wenn ihr was über neue Platten hören wollt, ich hab kein Bock mehr Scheissemistkacke.“

Alfred Hilsberg trifft als vielleicht den umtriebigsten Akteur der Szene natürlich als letzten die »Schuld«; das Ankommen von subkulturellen Szenen und Praktiken in der Mitte der Gesellschaft – in veränderter Form – ist ein nicht zuletzt von den Protagonisten gewollter und beförderter immanenter Prozess, der sich mittlerweile dutzendfach wiederholt hat. Vielleicht ändert sich dabei aber ja doch jedesmal auch die Gesellschaft ein wenig.

Der sich aufdrängende Vergleich mit Blogs (wie ganz zuletzt auch diesem) entscheidet sich meines Erachtens weniger mit der Erscheinungsform, sprich haptisches Zeitschriftenformat versus immaterielles Weblog. Etwas Gedrucktes und in der Stadt Ausliegendes wie zum Beispiel das Münchener Superpaper ist sicher erst einmal relevanter als ein im Extremfall von niemandem gelesener Blog. Andererseits kann ich mir in meiner Moosacher Wohnung jederzeit Beiträge auf beatpunk.org reinziehen, was nicht so einfach wäre, wenn das Ding nur im Conne Island in Leipzig ausliegen würde. Vielmehr scheinen mir Haltung, Absichten, Thematik und Sprechweise auschlaggebend für einen Fanzine-Vergleich. Die Frische von Ostrich oder Heimatblatt ist in diesem Blog jedenfalls nirgends zu finden. Bekackt, aber daran kann gearbeitet werden. Die Absichten sind nur teilweise die gleichen. Mitteilungsbedürfnis und Haltung teile ich aber bitteschön komplett. Es lebe die Leidenschaft!

-> Der Ostrich bei rondo-ton.de, der leicht nostalgischen Homepage von Franz Bielmeier
-> Und das Heimatblatt auf derselbigen
-> Den Ostrich gibt es sogar wieder, nice twist of history, als Blog. Allerdings (leider) sehr viel wortkarger als damals; oft nur Musikvideos und dazu ein oder zwei Sätze
-> Ein Interview vom ehemaligen Zap-Fanzine-Schreiber Martin Büsser (RIP) mit dem Ostrich-Gründer Franz Bielmeier für die Intro
-> Ein Fanzine-Roundtable in derselben Intro-Ausgabe:
-> Die zeitgenössischen Medien über Punkrock, unter anderem der Spiegel-Schreckensbericht und Alfred Hilsbergs berühmte Serie über die »Neue Deutsche Welle«, auf der fantastisch umfangreichen Homepage von Highdive Records
-> Und ein Jürgen-Teipel-Auswirkungen-Artikel in wieder derselben Intro-Ausgabe
-> Über die Erinnerung an Punkrock/NDW (und die Rolle von Jürgen Teipels »Verschwende deine Jugend«) bei den angenehm reflektierten Leuten von paraplui.de
Damit aber auch endlich Deckel zu hier. Mehr über den frühen BRD-Punkrock folgt sicher!